Ada Raev / Isabel Wünsche (Hgg.): Kursschwankungen. Russische Kunst im Wertesystem der europäischen Moderne, Berlin: Lukas Verlag 2007, 262 S., ISBN 978-3-86732-012-2, EUR 30,00
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Die russische Kunstgeschichte führt innerhalb der akademischen Kunstgeschichte jedenfalls in Deutschland bis heute ein Schattendasein. Russische Kunst gilt als Randbereich der europäischen Kunst und wer sich darauf spezialisiert, wird in die Exotenecke geschoben. Diese Auswirkung von Blockkonfrontation und "eisernem Vorhang" dauert mehr oder minder bis heute an, ungeachtet dessen, dass bis zum Beginn des ersten Weltkriegs und mit Einschränkungen auch noch in den 1920er-Jahren ein reger internationaler künstlerischer Austausch zwischen Russland und Westeuropa existiert hat und dass seit 1989 ein ebensolcher wieder in Gang gekommen ist. Nur wenige Museumsleute und Wissenschaftler haben vor 1989 russische Kunst der Betrachtung wert erachtet - und hier war es fast ausschließlich die Russische Avantgarde, die Aufmerksamkeit auf sich zog, insbesondere weil sie der nach 1945 etablierten apologetischen Sicht der klassischen Moderne adaptierbar schien. Zwei hauptsächliche Perspektiven haben sich dabei entwickelt, die seither eine Parallelexistenz führen: einerseits die mehr oder minder bruchlose Integration der russischen Moderne in ein (freilich heterogenes, häufig verkürztes) Bild einer internationalen Moderne und andererseits die Betonung der prinzipiellen Andersartigkeit alles "genuin Russischen" gegenüber "dem Westlichen".
Vor diesem Hintergrund sucht der von Ada Raev und Isabel Wünsche herausgegebene Sammelband dreierlei zu leisten: Erstens eine allgemeine Aufwertung der russischen Kunstgeschichte als Gegenstandsbereich der allgemeinen europäischen Kunstgeschichte, zweitens die Erweiterung der Sicht auf die russische Moderne über das (zweifellos schon sehr komplexe und in sich heterogene, jedoch zeitlich auf wenige Jahre beschränkte) Themenfeld der russischen Avantgarde hinaus auf die gesamte Epoche der Moderne, wobei deren Datierung analog zu der heute für Westeuropa etablierten Datierung auf den Zeitraum vom frühen 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart vorgenommen wird. Und drittens die kritische Reflexion der nach wie vor existierenden Klischees über Russland und die russische Kunst.
Der Band geht zurück auf ein Symposium, das die Herausgeberinnen im Sommer 2006 in Bremen veranstaltet haben. Verdienstvoll sind Tagung und Tagungsband allein schon deshalb, weil hier erstmals der Versuch unternommen wurde, die KunsthistorikerInnen zusammen zu bringen, die im deutschsprachigen Raum über russische Kunstgeschichte forschen. Bedauerlicherweise haben sich jedoch fast ausschließlich Vertreterinnen und Vertreter des wissenschaftlichen Nachwuchses beteiligt, während renommierte Autoren, die bereits seit den 70er- und 80er-Jahren Grundlegendes zur russischen Kunst beigetragen haben - etwa Hubertus Gassner, Felix Philipp Ingold, Aage A. Hansen-Löve, Boris Groys - fehlten. Sollten sie alle (wie es auch bei der Rezensentin der Fall war) aus terminlichen Gründen an der Teilnahme verhindert gewesen sein? Bedauerlich ist es schon, da so die Gelegenheit versäumt wurde, die verschiedenen Generationen der Russlandforschung an einen Tisch zu bringen. Folglich enthält das Inhaltsverzeichnis vorwiegend unbekannte Namen - ein Umstand, der ein AutorInnenverzeichnis umso deutlicher vermissen lässt.
Die Beiträge sind, wie bei einem solchen Sammelband kaum anders zu erwarten, qualitativ und auch inhaltlich sehr disparat. Bis auf sehr wenige Ausnahmen sind fast alle dem 20. Jahrhundert gewidmet, was an sich bereits charakteristisch für die westliche Wahrnehmung der russischen Kunstgeschichte ist. Die inhaltlichen Gesichtspunkte, nach denen die Herausgeberinnen die Beiträge geordnet haben, sind wiederum höchst charakteristisch für die russische Kunst- und Kulturgeschichte: die ost-westliche Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Kultur, Varianten der Grenzüberschreitung und nationale Selbstkonstruktionen stehen - wie auch der Buchtitel zum Ausdruck bringt - im Vordergrund. An sehr unterschiedlichen Beispielen - von Ivan Puni zwischen westlichem Kubismus und russischem Formalismus bis zu Ilja Kabakov zwischen sowjetischem Erfahrungshintergrund und westlicher Rezeption - wird das Spannungsfeld ost-westlicher Missverständnisse, Umdeutungen und Umwertungen aufgerollt. Sachlich treffend und erfrischend deutlich werden an den unterschiedlichsten Exempeln die bis heute gepflegten russisch-slawophilen Selbstmythisierungen vom vermeintlich autochthonen, spezifisch russischen Wesen ebenso widerlegt wie die verbreitete, von Unkenntnis geprägte westliche Perspektive, die russischen Künstlern eine gegenüber westlichen Kunstentwicklungen epigonale Rolle zuschreibt.
Da die Einzelbeiträge vorzugsweise sehr spezifischen Themen gewidmet sind, was Nichtspezialistinnen und Nichtspezialisten wenig Anreiz zur Lektüre bietet, ist es umso positiver zu werten, dass diesen ein umfangreicher Einführungsteil vorangestellt ist. Isabel Wünsche, Ada Raev und Waltraud Bayer geben hier allgemeinere Übersichten über die Differenzen und Wandlungen in der russischen Selbstrepräsentation, in der westlichen und russischen Wahrnehmung der künstlerischen Moderne sowie in der Wertschätzung russischer Kunst auf dem internationalen Kunstmarkt. Diese einführenden Beiträge steigern den Gebrauchswert des Bandes enorm, insofern sie einen gut informierten und klar strukturierten Einstieg in die im deutschsprachigen Raum sträflich vernachlässigte Materie verschaffen. Deshalb lässt es sich auch verschmerzen, dass manche der darauf folgenden Einzelbeiträge weitgehend Bekanntes variieren und nur einen geringen Erkenntniswert aufweisen. Es gibt aber auch Beiträge, die interessante neue Themen und Fragestellungen eröffnen, so - um nur ein Beispiel zu nennen - die (Selbst-) Repräsentation russischer zeitgenössischer Kunst auf der Biennale von Venedig seit den 1970er-Jahren.
Insgesamt gibt der Band eine vielfältige und anschauliche Übersicht über die wichtigsten aktuellen Forschungsfelder in Bezug auf die russische Kunstgeschichte im internationalen Kontext. Den Herausgeberinnen gebührt das große Verdienst, einen ersten Anstoß zur Bündelung und Sichtbarmachung der Forschungsaktivitäten zur russischen Kunst unternommen zu haben. Nun bleibt zu wünschen, dass weitere Initiativen folgen und die osteuropäische - nicht nur die russische - Kunstgeschichte perspektivisch tatsächlich zu einem gleichwertigen und allgemein wahrgenommenen Feld der deutschsprachigen Forschung wird.
Verena Krieger