Cornelis P. Venema: Accepted and Renewed in Christ. The "Twofold Grace of God" and the Interpretation of Calvin's Theology (= Reformed Historical Theology; Vol. 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 296 S., ISBN 978-3-525-56910-8, EUR 54,90
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Seit ihren Anfängen ist in der christlichen Theologie stets die Notwendigkeit betont worden, Gott als einen gnädigen Gott wahrzunehmen. Um zu klären, was unter dem Begriff der Gnade denn genau zu verstehen sei, wurden in der Geschichte des Christentums unzählige Abhandlungen geschrieben. Wichtigster Gewährsmann für Calvin, um dessen Gnadenlehre es in der zu besprechenden Studie geht, ist der Kirchenvater Augustin (354-430), der bereits zwischen zwei Arten der Gnade unterschied: Zum einen wird der Mensch aus seiner selbstverschuldeten Trennung von Gott befreit, zum anderen wird den gläubigen Menschen, sofern sie erwählt sind, zusätzlich noch die Gabe der Beharrlichkeit verliehen, die einen Abfall vom Glauben im weiteren Lebensverlauf verhindert.
Cornelis P. Venema hat sich mit seiner 1985 (!) am Princeton Theological Seminary (New Jersey, USA) eingereichten und nun für die Publikation überarbeiteten Dissertation zum Ziel gesetzt, die Relevanz der Gnadenlehre innerhalb des größeren Zusammenhangs von Calvins Theologie neu herauszuarbeiten. Bereits in der Einleitung wird deutlich, dass der Verfasser nicht daran interessiert ist, das dogmatische Thema in den historischen Kontext von Calvins Biografie bzw. in den Verstehenshorizont des 16. Jahrhunderts einzubetten. Stattdessen wird ein streng systematisch-theologischer Zugang gewählt, um die Zentralstellung des Themas in Calvins theologischem Denken besser herausarbeiten zu können (9-12).
In fünf Bereichen sieht der Verfasser trotz zahlreicher vorangegangener Studien zu Calvins Gnadenlehre weiterhin Klärungsbedarf: "1) the question of the place and importance of the doctrine of justification and sanctification in Calvin's theology; 2) the question of the precise relation between justification and sanctification; 3) the question of the relation between Calvin's understanding of 'union with Christ' and his 'forensic' definition of justification; 4) the question of the nature and relation of law and gospel; and 5) the question of the so-called 'practical syllogism' (syllogismus practicus) in Calvin's theology." (22)
Der Beantwortung dieser fünf Fragen im Abschlusskapitel (267-274) nähert sich Venema in drei Schritten: Zunächst ordnet er die "Lehre von der zweifachen Gnade Gottes" in den Gesamtzusammenhang von Calvins Theologie ein (33-79), den er unter den Stichworten "Gotteserkenntnis" (knowledge of God) und "Selbsterkenntnis" (knowledge of ourselves) skizziert (51). Gotteserkenntnis findet unter der Perspektive der "duplex gratia Dei" in zweifacher Hinsicht statt: Zum einen wird Gott als Schöpfer wahrgenommen, zum anderen als Erlöser (51, 79). Auch wenn die folgende Argumentation im Wesentlichen auf dem zweiten Aspekt aufbaut (190-192), so wird das Erlösungswerk Christi für den Menschen nur dann voll verständlich, wenn er sich als Geschöpf Gottes begreift.
Im zweiten Teil der Studie (81-192) interpretiert Venema "die zweifache Gnade Gottes" mithilfe der theologischen Termini 'Rechtfertigung' und 'Heiligung' (81ff). Während die grundlegende reformatorische Erkenntnis - Rechtfertigung aus Glauben allein - der Heiligung theologisch vorangestellt ist, betont der Verfasser Calvins Anliegen, die Wechselwirkung der beiden Momente nicht zu übersehen: Da zwischen Sonne und Hitze eine ursächliche Verbindung besteht, wäre die Existenz einer Sonne ohne Hitze undenkbar (173). Ebenso kann - laut Venemas Interpretation der Gedanken Calvins - keine Rechtfertigung ohne Heiligung vorhanden sein: "Our free adoption by God [...] is only granted to us when we submit to the governance of his Spirit." (174) Damit wird die Frage nach den guten Werken in die Gnadenlehre miteinbezogen, sie werden zu "inferior causes" der Rechtfertigung (ebd). Dennoch kommt es nicht zu einer Mitwirkung des Menschen bei seiner Errettung, da die guten Werke als Früchte der Heiligung der Gnade Gottes entspringen.
Der dritte Teil des Buches (193-261) besteht aus einer Untersuchung, inwiefern die Lehre von der "duplex gratia Dei" Auswirkungen auf andere theologische Topoi hat (Trinität, Christologie, Ekklesiologie u.a.). Den Ertrag dieses letzten Arbeitsschrittes sieht Venema darin, Rechtfertigung und Heiligung als wesentliche Aspekte von Calvins Theologie herauszuarbeiten und dem Vorurteil entgegenzuwirken, es handele sich hierbei um untergeordnete Themen (267f.). Mit der immer wiederkehrenden - der altkirchlichen Christologie entnommenen - Formel "distinction without separation" möchte Venema eine einseitige Rezeption des reformatorischen "sola gratia" abwehren, indem er seine Untersuchung mit folgendem Satz beendet: "All believers who are united to Christ by faith and indwelt by his Spirit enjoy not only the assurance of favor with God on the basis of Christ's righteousness, but also the beginnings of new obedience by which the image of God is restored." (274) Rechtfertigung und Heiligung müssen unterschieden, dürfen aber nicht voneinander getrennt werden.
Die Studie bedient in erster Linie die Interessen der systematischen Theologie. Für diese bietet sie wertvolles Material, da der Verfasser vor kontrovers diskutierten theologischen Fragestellungen nicht zurückschreckt. Wie bereits angedeutet unterbleibt jedoch eine Interpretation des Themas auf dem Hintergrund von Calvins Biografie ebenso wie eine Einordnung in den traditionsgeschichtlichen Kontext. Dieser Verzicht ist Programm, wie der Verfasser in der Einleitung explizit hervorhebt (9f.). Genau diese Festlegung ist allerdings problematisch: Zwar ist erfreulich, dass Venema seine Thesen nicht nur auf Grundlage von Calvins dogmatischem Hauptwerk 'Institutio Christianae Religionis' aufbaut, sondern - wie von der gegenwärtigen Forschung zu Recht gefordert - Predigten und Kommentare zu biblischen Büchern heranzieht. Allerdings wird die in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchende Frage nach unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in den verschiedenen Schriftgattungen (Predigt, Schriftauslegung, dogmatische Abhandlung) vollständig außer Acht gelassen. Auch wird nirgends berücksichtigt, dass Calvins Theologie einen dreißigjährigen Reifungsprozess aufzuweisen hat. Zur Untermauerung seiner Thesen zitiert Venema aus unterschiedlichen Schriften Calvins, ohne nach Entwicklungslinien zu fragen. Aus Publikationen, die eine so große Zeitspanne umfassen, ein geschlossenes System zu konstruieren, muss problematisch erscheinen.
Warum die traditionsgeschichtliche Einordnung fast gänzlich fehlt, ist auch unter systematisch-theologischen Gesichtspunkten nicht einzusehen, da die Diskussion von Calvins Aussagen mit dessen Gewährsleuten der Untersuchung mehr Tiefe verliehen hätte: Augustin als wichtigster altkirchlicher Theologe für Luther und Calvin taucht nur drei Mal auf 274 Seiten auf (74, 140, 211); Martin Bucer, von dem Calvin entscheidende Impulse für seine Theologie erhalten hat, wird lediglich in zwei Fußnoten erwähnt (116, 212); Theodor Beza, Calvins engster theologischer Mitarbeiter und Nachfolger in Genf, kommt gar nicht vor.
Zu würdigen ist die intensive Quellenarbeit und der Versuch, den für Calvins Theologie zweifellos zentralen Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Heiligung herausgearbeitet zu haben. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit Calvininterpreten des 19. und 20. Jahrhunderts ist, vom systematischen Interesse her betrachtet, überzeugend, die fehlende historische Einordnung in den Kontext des 16. Jahrhunderts muss aber als Mangel angesehen werden.
Tobias Sarx