Christoph Nübel: Die Mobilisierung der Gesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster (= Münsteraner Schriften zur Volkskunde / Europäischen Ethnologie; 14), Münster: Waxmann 2008, 192 S., ISBN 978-3-8309-2030-4, EUR 34,90
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Bei dem vorzustellenden Buch handelt es sich um eine 2007 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster erstellte Magisterarbeit. So wie sich mittlerweile die Ansprüche an wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten entwickelt haben, kann es heutzutage kein Argument mehr sein, Publikationen nicht zu rezensieren oder Arbeiten nicht zu veröffentlichen, nur weil sie unterhalb einer Dissertation angesiedelt sind. Häufig erreichen heutige Magisterarbeiten den Umfang und die Gedankendichte von Dissertationen und in einem gerade für Geisteswissenschaftler noch immer schwierigen Markt, ist es schon frühzeitig notwendig, sich mit eigenen Veröffentlichungen zu positionieren.
Mit dem Thema der 'Mobilisierung der Kriegsgesellschaft im Ersten Weltkrieg' und der Konzentration auf einen lokalen Fall - hier Münster in Westfalen - liegt Nübel ganz im Trend der Forschung. Nachdem der Erste Weltkrieg in den letzten Jahrzehnten seit dem Abklingen der 'Fischer-Kontroverse' trotz seiner für die Nachgeborenen doch geradezu zwangsläufig rätselhaften Monstrosität und Totalität zumindest in Deutschland nur wenig Interesse seitens der Historikerzunft wecken konnte, boomt das Thema seit einiger Zeit wieder. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen der letzten Jahre beweisen dies. [1] Doch anders als im angelsächsischen Raum, in dem häufig mit einer für Deutsche nicht immer ganz nachvollziehbaren Detailfreude über strategische Fehler, taktische Operationen und Geschützgrößen geforscht wird, haben die deutsche, aber auch die französische Geschichtsforschung ein dezidiertes Interesse an den 'weichen' Themenfeldern zum Ersten Weltkrieg entwickelt: Propaganda, Geschichtskultur, soziale Fragen... Auch die Beschränkung auf Lokalstudien ist dabei häufig anzutreffen. Eine vergleichbare Arbeit, auf die sich Nübel für den Raum seiner Untersuchung beziehen konnte, war z.B. ein Aufsatz über das 'Augusterlebnis in Münster'. [2]
Im Mittelpunkt steht Nübels Forschungsfrage nach der Entstehung, Entwicklung und dem Fortleben eines unter dem Begriff 'Volkskrieg' subsumierbaren Einheits- und Mobilisierungsdiskurses auf lokaler Ebene und das Verhältnis dieses lokalen Diskurses zum nationalen. Quellengrundlage hierfür ist insbesondere die Münsteraner Presse, die allerdings aufgrund ihrer strikt katholischen Ausrichtung nicht unbedingt als repräsentativ für das ganze Reich bezeichnet werden kann. So stellt Nübel auch fest, dass "explizit sozialistische oder nationalistische Parteipresse" in Münster nicht zu finden war (21). Die Entwicklungen untersucht Nübel zweigeteilt. So betrachtet er Propaganda und Alltag bis 1915/16 getrennt von jenen der Jahre 1916 bis 1918, in denen die Belastungen des Krieges auch an der Heimatfront wuchsen. Zwar besteht die Gefahr, dass so Kontinuitäten zwischen den beiden Hälften übersehen werden. Dass aber andererseits z.B. der blockadebedingte Hungerwinter 1916/17 Einfluss auf eine Änderung der Wirksamkeit des lokalen wie nationalen Einheits- und Mobilisierungsdiskurses genommen haben dürfte, wird wohl außer Frage stehen. So konstatiert Nübel schließlich das Scheitern des Einheitsdiskurses, der vor der Macht des Faktischen, der desolaten kriegsbedingten Situation in Deutschland und damit auch in Münster kapitulieren muss: "[...] zudem stand die tägliche Erfahrung an der Heimatfront Inhalt und Rhetorik des Diskurses entgegen. [...] Dem Diskurs waren so die Voraussetzungen genommen, Wirklichkeit zu konstituieren, so dass er mit Dauer des Krieges an Mobilisierungskraft verlor." (161)
Dass Nübel eine überragend wichtige Forschungslücke mit überraschenden Ergebnissen geschlossen hätte, kann zwar nicht behauptet werden. Seine Untersuchung erläutert aber eine konkrete Fragestellung in einem klar definierten Raum und liefert so im Kleinen einen lesenswerten Beitrag zum Verständnis des großen Rätsels 'Erster Weltkrieg'. Schließlich war es doch vor allem die Propaganda beider Seiten im täglichen Leben, die den Menschen den Krieg immer wieder neu als notwendig und führenswert darstellte und die es so ermöglichte, dass sich die Völker Europas in einem vierjährigem Gemetzel hinschlachten ließen: "Schon die Zeitgenossen hatten ein deutliches Empfinden dafür, daß der Hauptgrund für den Krieg am Ende womöglich die Kriegspropaganda war." [3]
Anmerkungen:
[1] John Keegan: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie, Reinbek bei Hamburg 2000; Andreas Berghahn: Der Erste Weltkrieg, München 2003; Ludger Grevelhörster: Der Erste Weltkrieg und das Ende des Kaiserreichs, Münster 2003; Michael Salewski: Der Erste Weltkrieg, Paderborn 2003; Stephan Burgdorff / Klaus Wiegrefe: Der Erste Weltkrieg. Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, München 2004; Michael Howard: Kurze Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2004; Hew Strachan: Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, München 2004; Hedley Paul Willmott: Der Erste Weltkrieg, Hildesheim 2004; David Stevenson: Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 2006.
[2] Kristina Thies: Das Augusterlebnis in Münster im Spiegel der Kriegschronik Eduard Schultes, in: Die Urkatastrophe als Erinnerung. Geschichtskultur des Ersten Weltkriegs, hg. von Tobias Arand, Münster 2006, 99-131.
[3] Michael Jeismann: Propaganda, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, hg. von Gerhard Hirschfeld u.a., Paderborn 2003. 200.
Tobias Arand