Christoph Nübel (Hg.): Dokumente zur deutschen Militärgeschichte 1945-1990. Bundesrepublik und DDR im Ost-West-Konflikt (= Deutsch-deutsche Militärgeschichte; Bd. 1), Berlin: Ch. Links Verlag 2019, IX + 986 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-96289-070-4, EUR 80,00
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Um der deutschen Geschichte zwischen 1945 und 1990 gerecht zu werden, müssen beide deutsche Staaten und Gesellschaften in den Blick genommen werden. Besonders reizvoll ist es dabei, nicht nur nach Kontrasten, sondern auch nach Parallelen, wechselseitigen Wahrnehmungen, Abgrenzungen und Verflechtungen zu fragen. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt bzw. das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaft der Bundeswehr (ZMSBw) haben in der Vergangenheit die westdeutsche und die ostdeutsche Militärgeschichte vor allem getrennt behandelt. Mit dem vorliegenden, von Christoph Nübel herausgegebenen Band unternimmt das ZMSBw erstmals den Versuch, "die Bedeutung des Militärischen in der deutsch-deutschen Geschichte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wiedervereinigung anhand von Dokumenten erschließbar zu machen" (3).
Die edierten, zu 80 Prozent noch ungedruckten Dokumente entstammen zum größten Teil, aber keineswegs ausschließlich dem Bundesarchiv-Militärarchiv. Darüber hinaus wurden unter anderem Akten aus den Archiven des Bundesnachrichtendienstes (BND) und der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), von Landesministerien, aus den verschiedensten Nachlässen und Ego-Dokumente herangezogen (leider fehlt ein Archivverzeichnis). Die Quellen sind chronologisch angeordnet; thematisch sind sie durch ein Dokumentenverzeichnis mit einem knappen Dokumententitel sowie durch ein Personen- und Sachregister gut erschlossen. Überdies führt eine ausgezeichnete, prägnante Einleitung von Christoph Nübel in den Band ein. Eine große Anzahl der Schriftstücke ist auszugsweise abgedruckt, was angesichts des bereits jetzt sehr umfangreichen Bandes zu verstehen ist; schön wäre es aber gewesen, wenn Anmerkungen über den Inhalt der ausgelassenen Passagen informiert hätten. Überhaupt ist die Kommentierung der Quellen allzu knapp. Wenn beispielsweise im Tagebuchauszug eines Wehrpflichtigen vom "Rotarschsyndrom" die Rede ist (664), wird dies nur derjenige verstehen, der aus seiner Zeit bei der Bundeswehr weiß, dass "Rotarsch" eine Bezeichnung aus der Soldatensprache für einen Wehrpflichtigen in seinen Anfangsmonaten ist, der von erfahreneren Soldaten gehänselt und zu unangenehmen Aufgaben eingeteilt werden konnte.
Der Band enthält 217 Dokumente, die den gesamten Zeitraum von der Vorgeschichte beider Armeen bis zur Wiedervereinigung abdecken. Die Einleitung sowie die Dokumente legen nahe, dass es sich bei der Geschichte der west- und der ostdeutschen Streitkräfte über weite Strecken um eine Kontrastgeschichte handelte, die mit deren Gründung nach 1945 einsetzte und mit dem Wandel und der Abwicklung der NVA im Zuge von friedlicher Revolution und Einigungsprozess ihren Abschluss fand.
Ein großer Themenschwerpunkt bildet die Bündnis- und Sicherheitspolitik einschließlich ihrer nuklearen Komponente. Die Bundesrepublik befand sich insbesondere in der Frühphase, als noch die Strategie der "Massive Retaliation" galt, in einem Dilemma, das Brigadegeneral Albert Schnez 1960 so zusammenfasste: "[E]in Teil der Armee übersteht und erringt einen fraglichen 'Sieg', die Nation jedoch, die verteidigt werden soll, ist im Wesentlichen ausgetilgt [...] Das Obsiegen der freien Welt führt also [...] über ein Golgatha des deutschen Volkes." (16) Leider wird das komplette Dokument, anders als in der Einleitung angegeben, nicht abgedruckt. Mit dem Strategiewechsel zur "Flexible Response" wurde seit 1967 die Landkriegführung und damit auch die Rolle der Bundeswehr im Bündnis aufgewertet (Dok. 91). Zwar blieb die Abhängigkeit der Bundesrepublik von den Schutzzusagen der Atommächte bestehen, gleichwohl wuchs deren Bedeutung im Rahmen des Bündnisses, was unter anderem an deren Einbindung in die Nukleare Planungsgruppe der NATO deutlich wird.
Während sich die NATO zunehmend multilateralisierte, blieb die Warschauer Vertragsorganisation (WVO) der verlängerte Arm des sowjetischen Generalstabs. Die starke Abhängigkeit der DDR von der Sowjetunion wird etwa daran deutlich, dass Moskau die Einführung der Wehrpflicht in der DDR genehmigen musste (Dok. 62). Ob vor diesem Hintergrund die Bezeichnung der DDR als "Juniorpartner" (19) gerechtfertigt ist, erscheint allerdings zweifelhaft, da dies doch einen gewissen Handlungsspielraum voraussetzt. Erst mit der neuen Militärdoktrin der WVO von 1987, die nach einem NATO-Angriff eine primär defensive Kriegführung vorsah, konnte die DDR eigene militärische Interessen formulieren, um "das Horrorszenario eines Bewegungskrieges auf eigenem Terrain [zu] verhindern" (21).
Eine ganze Reihe von Dokumenten ist der wechselseitigen Wahrnehmung und der Rolle von Feindbildern gewidmet. Dabei trifft Nübels Aussage, dass "der Bedrohungsdiskurs in der NVA in hohem Maße auf die Bundeswehr [verwies], während Letztere vornehmlich die Sowjetarmee als Hauptmacht der WVO in den Blick nahm" (20 f.), grundsätzlich zu. Gleichwohl konnte er auch westdeutsche (und US-amerikanische!) Dokumente ausfindig machen, die sich mit dem "Kampfwert" der NVA befassen (Dok. 83, 90). Während die NVA jedoch 1972 auf die Vermittlung "eines illusionslosen Feindbildes" fixiert war, um gegen eine Verharmlosung der Bundeswehr in den eigenen Reihen vorzugehen (Dok. 115), mahnte die Bundeswehrführung 1973, bei der politischen Bildung "auf Information und kritische Auseinandersetzung" zu bauen und eine "Hasserziehung" auszuschließen (Dok. 120).
Damit ist bereits der zweite große Themenschwerpunkt des Bandes, das Verhältnis von Militär, Politik und Gesellschaft - einschließlich des damit eng zusammenhängenden Innenlebens beider Streitkräfte - angesprochen. Die Bundeswehr war von Anfang an eine Parlamentsarmee. Denn der Bundestag gab sich parallel zur Gründung der westdeutschen Streitkräfte einen Verteidigungsausschuss und einen Wehrbeauftragten; die Wehrverfassung der Bundesrepublik entstand erst infolge einer breiten parlamentarischen Debatte. Demgegenüber baute in der NVA die SED ihre Vormachtstellung aus, die Parteiorgane in den Streitkräften wurden gestärkt, und das Ministerium für Staatssicherheit wurde "institutionell in die NVA eingewoben" (24). Daraus resultierten auch unterschiedliche Soldatenbilder: Wurde in der Bundesrepublik der "Staatsbürger in Uniform" angestrebt, war in der DDR die "sozialistische Soldatenpersönlichkeit" das Ideal. Dabei klafften allerdings sowohl im Westen als auch im Osten Ideal und Wirklichkeit oft auseinander.
Dass der Soldatenalltag oft von ganz anderen Dingen beherrscht war, zeigt etwa die Eingabe einer Soldatenfrau an das Zentralkomitee über die enorme dienstliche Belastung des Mannes, die das Familienleben massiv beeinträchtige (Dok. 126). Überdies berichtete das MfS 1987 über die schädlichen Folgen der "EK-Bewegung", einer Hackordnung, in der insbesondere Soldaten des ersten Diensthalbjahrs psychischem und physischem Druck vonseiten der "EK", also der Entlassungskandidaten, ausgesetzt waren (Dok. 181). Dass es ähnliches in der Bundeswehr gab, zeigt ein Tagebuchauszug eines Wehrpflichtigen von 1980 (Dok. 147). Doch daneben wurde nicht nur von Alkoholexzessen berichtet. Bereits 1977 und 1978 gab es sowohl in der Bundeswehr als auch in der NVA rechtsextremistische Vorfälle (Dok. 129, 131).
Seit der Gründung beider deutscher Staaten wurde "eine kritische Debatte über Sinn und Zweck des Militärischen geführt" (6). Wenn Nübel diese Aussage auf die Bundesrepublik beschränkt, übersieht er, dass die beginnende Aufrüstung auch in der frühen DDR in kirchlichen Kreisen auf eine "Ohne mich"-Stimmung traf. Aber es trifft zu, dass sich die NVA unter den Bedingungen einer Diktatur kaum öffentlichem Protest ausgesetzt sah. Als die DDR 1978 jedoch den Besuch des Wehrunterrichts für die neunten und zehnten Klassen der Oberschulen vorschrieb, wurde vermehrt Kritik laut (Dok. 133, 160). Wenngleich in der Bundesrepublik nie eine ähnliche Militarisierung der Gesellschaft angestrebt wurde, war die Kritik am Militär ungleich lauter. Außerdem war in der Bundesrepublik - anders als in der DDR - das Recht auf Wehrdienstverweigerung grundgesetzlich garantiert. Als die Zahl der Wehrdienstverweigerer Anfang der 1970er Jahre in die Höhe schnellte, nahm die Bundeswehrführung dies besorgt zur Kenntnis. Da zu wenige Zivildienstplätze zur Verfügung standen, gab es bereits damals Überlegungen zur "Einführung einer übergreifenden allgemeinen Dienstpflicht" (Dok. 112). Als die Friedensbewegung im Westen im "zweiten Kalten Krieg" Massendemonstrationen gegen eine drohende Nachrüstung im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses auslöste, griff diese Stimmung auch auf die Bundeswehr über, wo etwa Generalmajor Gert Bastian um seinen Abschied bat (Dok. 138) und die Gruppe "Generale für den Frieden" gründete. Nach der Rückkehr zur Detente Ende der 1980er erodierte das Bedrohungsgefühl, was für die Bundeswehr erneut zum Problem wurde (Dok. 189).
Insgesamt handelt es sich trotz kleinerer, bei einem so umfassend angelegten Werk fast unvermeidbarer Mängel um einen äußerst lesenswerten Band. Als nützlicher "Wegweiser durch die deutsche Militärgeschichte des Ost-West-Konflikts" (41) sollte er von allen Zeithistorikern herangezogen werden, die am Kalten Krieg in seinem deutsch-deutschen Kontext interessiert sind.
Hermann Wentker