Rezension über:

Heinz Heinen: Antike am Rande der Steppe. Der nördliche Schwarzmeerraum als Forschungsaufgabe (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse; Beiheft 5/2006), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 91 S., ISBN 978-3-515-08921-0, EUR 17,00
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Rezension von:
Roland Oetjen
Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Instituts, München
Redaktionelle Betreuung:
Tassilo Schmitt
Empfohlene Zitierweise:
Roland Oetjen: Rezension von: Heinz Heinen: Antike am Rande der Steppe. Der nördliche Schwarzmeerraum als Forschungsaufgabe, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11 [15.11.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/11/17057.html


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Heinz Heinen: Antike am Rande der Steppe

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Mit der Antike wird gewöhnlich der von Griechen und Römern geprägte Mittelmeerraum assoziiert, und unter den antiken Randkulturen werden die Gebiete jenseits der Reichsgrenzen am Rhein und an der Donau sowie die Grenzzonen im Süden und Osten der griechischen und römischen Welt verstanden. Im vorliegenden Band richtet Heinen den Blick auf den nördlichen Schwarzmeerraum, der seit dem siebten Jahrhundert v. Chr. einen festen Bestandteil der antiken Welt bildete. Westlichen Forschern ist die Region nicht nur aufgrund ihrer Entfernung und der russischen Sprache, in der die meisten Veröffentlichungen erscheinen, sondern auch der politischen Verhältnisse in der Sowjetzeit fremd geworden. Die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte bieten die Chance eines Neuanfangs, und um so willkommener ist die Einführung in die Geschichte des nördlichen Schwarzmeerraumes und ihre Probleme, die der beste Kenner der Region und der aus ihr stammenden Forschung im deutschsprachigen Raum vorgelegt hat. Heinen stellt von ihm geleitete Projekte vor und zeigt Perspektiven zukünftiger Forschung auf.

In der Einleitung (in der Zählung des Buches dem zweiten Kapitel) formuliert Heinen drei Leitfragen: Die erste bilden die Beziehungen zwischen den Griechen und den einheimischen Völkern des Hinterlandes, den Skythen und später den Sarmaten. Im nördlichen Schwarzmeerraum stießen nicht nur zwei Völker, sondern auch zwei Welten aufeinander: die Welt der Schrift und städtischen Lebensform und diejenige der Reiternomaden, die Schrift und sesshafte Kultur trotz tausendjähriger Nachbarschaft zu den Griechen niemals übernahmen. In dem "langen Nebeneinander zweier Kulturstufen" und der "Gleichzeitigkeit von [...] ungleichzeitigen Welten" erkennt Heinen das besondere Interesse der Region für die Beziehungen zwischen dem Mittelmeerraum und seinen Randkulturen. Die zweite Fragestellung kreist um die Verbindung der griechischen Siedler mit ihren alten Heimatstädten. Nahmen die pontischen Poleis an den politischen, gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungen der zentralen Regionen der griechischen Welt teil? Erhielten die Städte Griechenlands und Kleinasiens Anstöße von ihnen? Ein drittes Themenfeld betrifft die Ausdehnung Roms in den griechischen Osten und den nördlichen Schwarzmeerraum, in dem sich das gesamte Spektrum direkter und indirekter römischer Herrschaft untersuchen läßt. Jenseits der Donaumündung waren Tyras und Olbia in die Provinz Moesia inferior einbezogen. Weiter östlich jenseits der Grenze der Provinz sicherten römische Truppen die südwestliche Krim um Chersonesos, und noch weiter östlich an der Straße von Kertsch und am unteren Don nannten die Könige des Bosporanischen Reiches sich "Freunde des Kaisers und des römischen Volkes". Die in bosporanischen Städten aufgestellten Ehrenstatuen römischer Kaiser bestätigten, dass die Herrschaft Roms an den Provinzgrenzen keinen Halt machte.

Im dritten Kapitel erarbeitet Heinen das Konzept eines Kommentars zum Skythenexkurs Herodots. Nötig sei es, die Aussagen des Historikers mit der archäologischen Dokumentation, besonders der griechischen Kunst in den Kurganen skythischer Herrscher, zu vergleichen und einen Beitrag zu der vielerörterten Frage der Glaubwürdigkeit Herodots zu leisten. Sowohl der Text als auch die Bildende Kunst bringen die Wahrnehmung der Skythen durch die Griechen zum Ausdruck und vermitteln (über die Realienkunde hinaus) einen Einblick in die vielleicht überlebensnotwendige Fähigkeit der Siedler, die (anders als Spanier oder Briten in ihren Kolonialreichen) nur einen schmalen Küstensaum am Rande der weiten Steppe bewohnten, sich in ihre barbarische Umwelt hinzudenken.

Mit dem vierten Kapitel beginnt die Präsentation der einschlägigen Projekte des Verfassers. Das erste handelt von den Beziehungen zwischen Rom und dem Bosporanischen Reich, das mit dem Untergang des pontischen Königs Mithridates VI. Eupator unter römischen Einfluß gelangte und so lange wie kein anderes Königreich Klientelstaat blieb und ein amicitia-Verhältnis unterhielt, ohne Provinz zu werden. Anhand der römisch-bosporanischen Beziehungen, deren Erforschung in der Sowjet-, besonders der Nachkriegszeit in den Sog patriotischer und nationalistischer Strömungen geraten war, demonstriert Heinen das wissenschaftsgeschichtliche Interesse des Gegenstandes.

Kürzer, aber nicht weniger anschaulich sind die Beschreibungen zweier im fünften Kapitel vorgestellter Vorhaben. Dem Kult des Achilleus gewidmet, steht das eine in der Tradition der mit den Beziehungen zwischen den Griechen und Einheimischen befaßten Forschung. In Olbia lag die "politische" Glanzzeit des Kultes, nachdem die um die Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. von den Geten zerstörte Stadt von den überlebenden Griechen unter dem Zuzug iranisch geprägter Sarmaten und/oder Skythen in der frühen Kaiserzeit wiedergegründet worden war, zwischen dem ersten und dritten Jahrhundert n. Chr., in der Achilleus als pontarches wie eine Staatsgottheit verehrt wurde. Die 'akkulturationsgeschichtliche' Komponente illustriert Heinen u. a. anhand einer Weihung des Archontenkollegiums, die einen Einblick in die ethnische und onomastische Durchmischung der Bevölkerung der wiederaufgebauten Stadt erlaubt. Während die Forschung aus der starken sarmatischen Komponente der Bevölkerung gewöhnlich auf eine "Sarmatisierung" der griechischen Polis Olbia schließt, sieht Heinen in der Einbindung der "Iraner" in die Verfassung, Sprache und Kultur der "Griechen"stadt Olbia deren erfolgreiche Hellenisierung manifestiert. In der Teilhabe an der Polis bis hin zu dem gemeinsamen Kult des Achilleus erkennt er den Unterschied zwischen den "Iranern" Olbias und jenen nicht in die staatlichen Formen und kulturellen Normen der griechisch-römischen Antike eingebundenen und als "Barbaren" und potentielle Feinde empfundenen Sarmaten.

Das andere dieser Projekte behandelt die Sklaverei im nördlichen Schwarzmeerraum, die von der sowjetischen Forschung niemals umfassend bearbeitet worden ist. Die Relevanz des Themas ergibt sich aus der Lage der Region an einem Brennpunkt der antiken Sklaverei an der Grenzzone zwischen dem Sklavenbedarf und dem Sklavennachschub, zwischen den osteuropäischen Herkunftsgebieten und dem mediterranen Sklavenhandel. Exemplarisch interpretiert Heinen eine der 16 bosporanischen Freilassungsinschriften, die bei einem Entstehungsdatum zwischen dem ersten und dem frühen dritten Jahrhundert n. Chr. fast immer jüdischen Gemeinden entstammen.

Die vier Projektbeschreibungen führen in die Geschichte dieses Raumes ein. Sie bieten zu bisher unbearbeiteten, aber zentralen Themenfeldern neue Ergebnisse und veranschaulichen die in der Einleitung formulierten Leitfragen anhand aufschlußreicher Beispiele. Sorgfältige Interpretationen literarischer, numismatischer, archäologischer und besonders epigraphischer Zeugnisse geben einen Einblick in das Quellenmaterial und seine Möglichkeiten. Der Verfasser präsentiert die nördliche Küste des Schwarzen Meeres als einen historischen Raum, der nur unter dem Blickwinkel der klassischen Altertumswissenschaft als ein Randgebiet erscheint. Aus der Perspektive der Universalgeschichte bildet er eine "geschichtsträchtige Kommunikationszone" (76), die durch die Westwanderung immer neuer Stämme und Völker ständige Anstöße aus Asien erhielt und im Laufe der römischen Kaiserzeit die Völkerwanderung hervorbrachte, aus der schließlich das mittelalterliche Europa entstand.

Roland Oetjen