Wilfried Reininghaus / Hertha Sagebiel (Bearb.): Die Tagebücher des Ludwig Freiherrn von Vincke 1789-1844. Band 1: 1789-1792 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen. XIX: Westfälische Briefwechsel und Denkwürdigkeiten; Bd. 12), Münster: Aschendorff 2009, X + 214 S., ISBN 978-3-402-15740-4, EUR 29,80
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Als sich 1994 das Sterbedatum des ersten Oberpräsidenten der preußischen Provinz Westfalen Ludwig Freiherrn Vincke zum 150. Male jährte, ergriff der damalige Direktor des Nordrhein-Westfälischen Staatsarchivs Münster die Initiative. Auf Hans-Joachim Behrs Betreiben kam ein respektabler Sammelband zustande, der mit biografischen und strukturanalytischen Ansätzen Vinckes politisches Wirken "zwischen Reform und Restauration in Preußen" beleuchtete. [1] Weiterhin wurde vom Archiv eine repräsentative Vincke-Ausstellung im Foyer des Landeshauses des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe gezeigt. [2]
Gleich in deren Eingangssequenz waren sie damals in einer Vitrine aufgehäuft: Die insgesamt 24 Tagebücher, die der Zögling des Pädagogiums in Halle a.S. 1789 weisungsgemäß zu führen begonnen und in der Folge aus freien Stücken ein Leben lang bis kurz vor seinen unfallbedingten Tod 1844 unter dem bereits 1792 selbst gesteckten Ziel einer "Lebenschronik" fortgeschrieben hatte. Natürlich waren diese kleinen - im Nachlass Vincke nahezu lückenlos überlieferten - Oktavbände den Kennern der westfälischen Landesgeschichte in der "Sattelzeit" als "Ego-Dokumente" erster Ordnung seit Langem wohlbekannt, zumal einige von ihnen, nämlich die der wichtigen Sequenz von 1813 bis 1818, bereits in einer mustergültigen Edition vorlagen, die Ludger Graf von Westphalen bearbeitet hatte. [3]
Von vielen weiteren Tagebüchern existierten bereits einfache Abschriften, die Wilhelm Güthling in den 1960er Jahren auf der Schreibmaschine tippte. Wieder war es Behr gewesen, der noch kurz vor Ende seiner Amtszeit dafür sorgte, dass diese Manuskripte von einer Schreibdienstangestellten im Staatsarchiv in digitaler Textverarbeitung erfasst wurden. Damit war die Grundlage für das ehrgeizige Projekt gelegt, nun alle erhaltenen Vincke-Tagebücher in einer modernen, wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Form zugänglich zu machen. Seit 2002 wirkten dafür das Archiv (dessen Behördenfirma mittlerweile Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Westfalen, lautet), die Historische Kommission für Westfalen und der Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Münster, zusammen. Von zehn geplanten Bänden haben Wilfried Reininghaus und Hertha Sagebiel 2009 den ersten vorgelegt, der die Jahre 1789 bis 1792 umfasst - also die Erlebnisse des jungen Vincke auf dem Pädagogium zu Halle a.S. dokumentiert. Dort wurden von August Hermann Niemeyer unter pietistischen und humanistischen Vorzeichen die Weichen gestellt, die Ludwig auf seine lange erfolgreiche Karriere im preußischen Staatsdienst führten.
Reininghaus stellt in seiner überschaubar gehaltenen, von allgemeinen Betrachtungen über die Quellenrolle von Tagebüchern geradlinig zum Vincke'schen Œuvre hinführenden Einleitung allerdings fest, dass dieser nicht erst auf jener modernen Erziehungsanstalt, sondern schon zuvor darauf verwiesen worden war, zumindest über Reiseerlebnisse tagtägliche Aufzeichnungen zu machen. Aber der kleine Mann begnügte sich eben nicht wie so viele seiner Zeitgenossen auch aus anderen Bevölkerungsschichten, die wie z.B. Handwerksburschen oder Soldaten ihre Wander- oder Marschjournale führten, mit einer lediglich deskriptiven Aufzeichnungsform, sondern versuchte schon als heranwachsender Schüler mit 15, 18 Jahren nicht nur auf, sondern auch hinter die Dinge zu schauen. Er sah und empfand, kommentierte und kritisierte, rezipierte und reflektierte: Auf seiner Reise von Minden nach Halle. a.S., in Göttingen, Kassel, Potsdam oder Berlin, in 'Saal-Athen' selbst oder bei den Ausflügen in die nähere und weitere Umgebung. Immer wieder richtete sich der forschende Blick des Tagebuchschreibers auch auf sich selbst und seine Rolle im Kreis einer adelsstolzen Familie.
Natürlich hielt er in seinen Aufzeichnungen v.a. das Leben am und den Unterricht im Pädagogium in vielen Details anschaulich fest, das ihn auf der Basis eines bürgerlichen Bildungsideals in einem zunächst nur bedingt preußisch konnotierten Wertesystem prägte und so auf seinen Werdegang einstimmte. All dies geschah nicht im luftleeren Raum, sondern im sozialen Umfeld einer wie üblich in gegnerische Gruppen gespaltenen Pennälerschaft und vor allem vor dem politischen Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Frankreich, die Vincke wie so viele Deutsche seiner Generation erst faszinierten, seit 1791 aber anzuwidern begannen - ohne dass sich ihm dadurch der Eindruck von ihrer historischen Bedeutung schmälerte. Aus einer schließlich revolutionsphoben Position schrieb Vincke 1792 einen Abituraufsatz "Versuch, ein zum Aufruhr geneigtes Volk gegen die Gesetze zurückzubringen", der in einer späteren Abschrift im Nachlass erhalten blieb und nun den Schlusspunkt unter diesen Band der Tagebuchedition setzt.
Deren Bearbeitungsrichtlinien lassen sich auf den begrüßenswerten Nenner "möglichst einfach, möglichst lesbar" bringen. Mit solcher Praktik wird vielleicht nicht jedes siebte Siegel der Vinck'eschen Handschrift gelöst, die schon in seinen jungen Jahren kleinzeilig, flüchtig und auf einem nachgerade stenografischen Abkürzungsverfahren aufgebaut war. Wer möchte, kann die Umsetzung der erläuterten Transkriptionsrichtlinien an den drei Tagebuchseiten überprüfen, die der Publikation zusammen mit einigen weiteren Abbildungen beigegeben sind. Die kommentierenden Anmerkungen zu Personen, Orten oder Sachbegriffen wurden mit den textkritischen Fußnoten in einem Ziffernsystem vermischt - wohl, weil es so die digitale Textverarbeitung gegen den guten, alten editorischen Brauch befahl. Die Kommentare selbst sind kurz und knapp ausgefallen, was zweifellos dem raschen Fortgang der Editionsarbeit zugutekommen sollte. Ein Verzeichnis der Abkürzungen, der zur Edition heranzuziehenden Literatur sowie getrennte Personen- und Ortsnamenindices runden den Band ab.
Tagebücher von der Ergiebigkeit der Vincke'schen und aus der Feder einer historischen Persönlichkeit seiner Qualität wird man immer mit Gewinn lesen und in vielfacher Hinsicht auswerten können. Schon dafür ist der Bearbeiterin und dem Bearbeiter des vorliegenden ersten Bandes wie denen der neun nachfolgenden sehr zu danken. Sicher wird ihre Arbeit für die nordwestdeutsche, v.a. westfälische Landesgeschichte in vielfacher Hinsicht nützlich sein. Mehr noch wird die Vincke-Tagebuchedition eine Basis bilden, zu der sich mittlerweile als östliches Pendant die Edition der Tagebücher seines Freundes Theodor von Schön gesellt, der seinerseits ein typisch preußischer Reformpolitiker von liberalem Zuschnitt war und erster Oberpräsident der Provinz Ostpreußen wurde. Von beiden Plattformen aus könnten also in absehbarer Zukunft interessante Innenansichten auf die gesamtpreußische Geschichte der Umbruchszeit geboten werden, die vertiefte Kenntnisse ihrer Abläufe, Chancen und Grenzen vermitteln. Umso schöner ist es, wenn dem ersten Band der Vincke-Tagebuchedition mittlerweile schon ein weiterer gefolgt ist, den Hans-Joachim Behr für die Zeit von 1804 bis 1810 bearbeitet hat. [4] Bis dat, qui cito dat.
Anmerkungen:
[1] Hans-Joachim Behr / Jürgen Kloosterhuis (Hgg.): Ludwig Freiherr Vincke. Ein westfälisches Profil zwischen Reform und Restauration in Preußen, Münster 1994.
[2] Peter Veddeler (Gesamtredaktion): Ludwig Freiherr Vincke (1774-1844). Ausstellung zum 150. Todestag des ersten Oberpräsidenten der Provinz Westfalen, veranstaltet vom Nordrhein-Westfälischen Staatsarchiv Münster, Münster 1994.
[3] Ludger Graf von Westphalen (Bearb.): Die Tagebücher des Oberpräsidenten Ludwig Freiherrn Vincke 1813-1818, Münster 1980.
[4] Vgl. hierzu die Rezension von Horst Conrad in dieser Ausgabe: http://www.sehepunkte.de/2010/01/17137.html
Jürgen Kloosterhuis