Philip Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der "Mont Pèlerin Society" (= Marktwirtschaftliche Reformpolitik; Bd. 8), Stuttgart: Lucius & Lucius 2008, 516 S., ISBN 978-3-8282-0441-6, EUR 59,00
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Die anhaltende Finanz- und Wirtschaftskrise scheint das Ende des seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre dominierenden ordnungs- und wirtschaftspolitischen Paradigmas einzuläuten: "Neoliberalismus abgewirtschaftet", titelte beispielweise vor kurzem die Zeitschrift der "Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft". Unter diesem Oberbegriff werden zurzeit alle neuerdings negativ konnotierten Aspekte des Kapitalismus subsumiert, von der "ungebremsten Entfesselung der Marktkräfte" über die "schrankenlose Gier der Manager" bis zur "Privatisierung" und "Deregulierung". Dies wäre indes eine äußerst einseitige und verzerrende Sicht des Neoliberalismus, wie Plickert in seiner an der Universität Tübingen entstandenen wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation zu zeigen bemüht ist. Insbesondere die Anfänge in den 1930er Jahren waren nämlich geprägt von einer Abkehr vom klassischen Liberalismus und seinem Laissez-faire-Denken in Richtung einer durch marktkonforme, einen effektiven Wettbewerb sicherstellende staatliche Eingriffe geprägten Wirtschaftsordnung.
Die Arbeit bietet zweierlei: eine Organisationsgeschichte der "Mont Pèlerin Society" (MPS), die seit ihrer Gründung 1947 als wichtiger - wahrscheinlich sogar wichtigster - neoliberaler think tank fungierte, und eine Ideengeschichte des Neoliberalismus. Ihr erklärtes Ziel ist es, "Entwicklung und Ausstrahlung der MPS darzustellen und zu bewerten" (2) - auch um "verschwörungstheoretischen Spekulationen" über den geheimen und geheimnisvollen Charakter der Gesellschaft und ihren überwältigenden Einfluss auf Wissenschaft und Politik entgegentreten zu können. Die Quellen- und Literaturbasis setzt sich aus drei Gattungen zusammen: unveröffentlichten Archivalien zur MPS in den Hoover Institution Archives in Stanford, im Liberaal Archief in Gent, in der Nachlässen verschiedener Protagonisten wie von Hayek, Friedman, Röpke und Rüstow, sowie im Bestand des Bonner Wirtschaftsministeriums im Bundesarchiv; Veröffentlichungen der wichtigsten Mitglieder der frühen MPS; schließlich die umfangreiche Fachliteratur. Auf dieser Grundlage lassen sich gewiss viele wichtige Fragen befriedigend beantworten - eine allerdings nicht: Um die "Ausstrahlung" der MPS auf die Politik einigermaßen fundiert bewerten zu können, genügt es nicht, nur die Akten eines Adressaten in einem Land - des Bundeswirtschaftsministeriums - auszuwerten.
Das Buch ist in vier Teile gegliedert: Im ersten entfaltet Plickert seine Hauptthese von der Geburt des Neoliberalismus in einem Klima der "existentiellen Krise des Liberalismus" in den 1930er Jahren. Dazu skizziert er zunächst den Aufstieg und den - von ihm mit den staatsinterventionistischen Implikationen des Ersten Weltkriegs erklärten - Niedergang des klassischen Liberalismus und die von vier keineswegs in allen wesentlichen Fragen übereinstimmenden Denkschulen geprägte "liberale Selbstfindung" während der Zwischenkriegszeit. Höhepunkt und vorläufigen Abschluss dieser Neubesinnung bildete das "Colloque Walter Lippmann", zu dem sich 1938 "eine über die ganze Welt versprengte Schar von Liberalen" (87) in Paris traf, um anlässlich der Hochzeitsreise Lippmanns über dessen auch in Frankreich aufmerksam rezipiertes Buch "The Good Society" - eine scharfe Abrechung mit totalitären Regimen, aber auch mit dem "graduellen Kollektivismus" des New Deal - zu debattieren. Im zweiten Teil geht es um die organisatorische Entwicklung der MPS und ihre strategische Ausrichtung. In dem Streit, ob die Gesellschaft eine öffentliche, politikberatende Rolle anstreben oder sich darauf beschränken sollte, so Hayeks Votum, "in diskreter Weise den intellektuellen Austausch zu ermöglichen und Anziehungskraft auf akademische Meinungsführer auszuüben" (161), konnte sich zunächst letzterer durchsetzen.
Im dritten Teil wendet sich Plickert der Praxis der MPS zu, indem er zunächst deren Positionen zu wichtigen wirtschaftspolitischen Themen und Kontroversen - von der Wettbewerbspolitik über das Verhältnis zum Keynesianismus und zu den Gewerkschaften bis zum Wohlfahrtsstaat und zur europäischen Integration - analysiert. Dem schließt sich eine Untersuchung des Einflusses der MPS bzw. einzelner Mitglieder auf die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik, Italien, Frankreich, Großbritannien und den USA an. Im vierten Teil setzt sich Plickert unter der Überschrift "Beginn einer neoliberalen Gezeitenwende" mit dem "Kampf" gegen den keynesianischen Konsens und dem Ausbau des "weltweiten neoliberalen Netzwerks" auseinander. Dieser Siegeszug, der in Großbritannien unter Margret Thatcher und den USA unter Ronald Reagan seinen Ausgang nahm, war verbunden mit einer Verschiebung der Kräfte innerhalb des neoliberalen Lagers: Die Anhänger des Laissez-faire-Denkens gewannen die Oberhand, von den "einstigen Zweifeln bezüglich der Stabilität eines nicht durch den Staat gesicherten Wettbewerbs war nur noch wenig zu spüren" (463).
Plickerts Studie stellt einen wichtigen Beitrag dar zum Verständnis des Neoliberalismus, seiner verschiedenen Strömungen und des Wandels, dem dieses Konzept unterworfen war und noch ist. Das Buch besticht durch eine meist differenzierte Darstellung und Deutung. Umso mehr fallen ein paar irritierende Eigenheiten auf: So lässt Plickert kaum eine Gelegenheit aus, eine geistige Nähe von "Sozialismus" und "Nationalsozialismus" zu suggerieren (z.B. 21, 45, 117). Jüngere Warnungen globalisierungskritischer Kreise von "links wie rechts" vor einem "entfesselten Kapitalismus" sind natürlich "schrill" (469), und überhaupt habe die "Neue Linke" mit ihrer "Kulturrevolution" den "Hebel zur Zerstörung der bürgerlich-liberalen Gesellschaft" angesetzt (475). Am gravierendsten erscheint aber, dass es ihm aufgrund seiner prinzipiellen Sympathie mit dem untersuchten Konzept mitunter nicht gelingt, die nötige kritische Distanz zu wahren: Die nun wirklich schrillen und völlig übertriebenen Warnungen namhafter MPS-Mitglieder vor einem Abdriften gefestigter westlich-demokratischer Gesellschaften in den "Totalitarismus", bloß weil manche Regierungen auf Planung und wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen nicht verzichten wollten, nimmt Plickert zum Nennwert, anstatt sie als Parolen im ideologisch-kulturellen Kalten Krieg zu entlarven. Und auch die Zurückweisung des Vorwurfs der "neoliberalen Verschwörung" vermag nicht zu überzeugen: Eine Verschwörung gab es gewiss nicht - Netzwerke schon; wie diese geknüpft wurden, erfährt man aber nur im Zusammenhang mit dem Aufstieg und Sieg Reagans etwas genauer. In beiden Fällen wäre mehr wissenschaftliche Sorgfalt und Reflexion durchaus angebracht gewesen.
Werner Bührer