Hans-Peter Becht: Badischer Parlamentarismus 1819 bis 1870. Ein deutsches Parlament zwischen Reform und Revolution (= Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf: Droste 2009, 934 S., ISBN 978-3-7700-5297-4, EUR 98,00
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Ewald Grothe (Hg.): Ludwig Hassenpflug. Denkwürdigkeiten aus der Zeit des zweiten Ministeriums 1850-1855, Marburg: Elwert 2008
Rund 30 Jahre intensive Forschungen über das Thema sind in Hans-Peter Bechts voluminöse Studie zum badischen Parlamentarismus eingeflossen. Hiervon zeugen seine intime Quellenkenntnis, die kenntnisreiche Einbeziehung aktueller Forschungsdiskussionen wie auch der flüssige Darstellungsduktus. Becht verknüpft Fragestellungen der Institutions-, Sozial- wie auch Politikgeschichte und liefert auf dieser Basis eine anschauliche Biographie über eine Einrichtung, die im Laufe des 19. Jahrhunderts innerhalb des deutschen Parlamentarismus eine außergewöhnliche Entwicklung nahm und zum Sinnbild für das badische 'Musterländle' wurde. Die Studie ist in zwei thematische Großabschnitte gegliedert. Im ersten Teil beschreibt Becht die "normativen Grundlagen" und "praktische Ausgestaltung" des badischen Parlamentarismus. Ausgehend von der Entstehung der badischen Verfassung und des darin konstituierten Zweikammersystems stellt er fest, dass diese für den vormärzlichen Liberalismus in Baden im Vergleich zu den übrigen süddeutschen Staaten zunächst einmal keineswegs besondere Startbedingungen setzte. Andere Rahmenbedingungen waren demnach bedeutender, z.B. die Kleinräumigkeit des Großherzogtums, das der vergleichsweise homogenen Oberschicht recht einfache Kommunikationswege ermöglichte. Dadurch konnte sich recht früh eine parlamentarische Funktionselite entwickeln. Eine kaum zu unterschätzende Schlüsselposition kam hierbei Adam von Itzstein zu, der als "Wahlmanager" und Integrationsfigur der liberalen Opposition eine feste Orientierung bot.
Entsprechend wusste die Opposition schon frühzeitig die ihr gebotenen Handlungsspielräume zu nutzen. Anschaulich erläutert der Autor die Bedeutung des Wahlrechts einschließlich des komplizierten Wahlmännerverfahrens sowie die Diätenregelung, die auch finanziell weniger potenten Politikern eine gewisse soziale Unabhängigkeit sicherte. Auch Lücken in der Wahlordnung spielten der Opposition in die Karten, wie etwa die Möglichkeit, die Zensusforderungen für das passive Wahlrecht durch Einrichtung eines Weinlagers (!) zu umgehen. Gleiches lässt sich auch für die Geschäftsordnung des Parlaments konstatieren, die zwar kein Initiativrecht für Gesetze vorsah, mit den sogenannten Motionen (Anregungen) jedoch ein wertvolles Ersatzvehikel bot, um Forderungen zu erheben, Kritik zu üben und so das eigene Profil zu steigern. Zu einem weiteren Instrument entwickelten sich die meist von den Parlamentariern gesteuerten Petitionen, deren wechselnde Anzahl Becht als politische Fieberkurve für das Klima der badischen Innenpolitik identifizierte.
Es ist gerade die Stärke von Bechts Arbeit, dass er den Leser sowohl in die teilweise komplizierten Verhältnisse politischer Einzelfragen (z.B. Geschäftsordnung, Debattenstruktur, Ausschüsse etc.) einführt, andererseits aber auch bestehende Topoi über das badische Parlament einer Überprüfung unterzieht. So macht er ein dickes Fragezeichen hinter die häufig kolportierte Einschätzung von der zweiten Kammer als Beamtenparlament, indem er auf die zahlreichen Freiberufler und Unternehmer hinweist, die als Abgeordnete fungierten.
Der zweite Teil des Handbuchs beschreibt chronologisch die Entwicklung von Gesellschaft, Parlament und Regierung zwischen dem Inkrafttreten der Verfassung 1818 und der Reichsgründung 1871. Die unterschiedliche Einschätzung der parlamentarischen Kompetenzen führte bereits im ersten Landtag zum Konflikt zwischen den Abgeordneten und der Regierung und eskalierte schließlich in der Budgetfrage. Die Mehrheit der zweiten Kammer fand sich schon bald in der Rolle einer fundamentalen Opposition wieder, was so von den Verfassungsvätern in den Ministerien nicht beabsichtigt gewesen war. Doch alle Versuche der badischen Regierung unter den Reaktionären Berstett und Berckheim, die Kompetenz des Parlaments zu beschneiden und damit das Rad der Zeit zurückzudrehen, verliefen im Sande. Hieran konnten selbst die Interventionen beim Deutschen Bund wie auch die massive Beeinflussung der Wahlen nichts ändern. Im Gegenteil, die Zeit ihrer massiven Bedrängung in den 1820er Jahren wusste die Opposition zum Aufbau eines landesweiten Netzwerks zu nutzen, das im Wesentlichen vom Abgeordneten Itzstein geknüpft wurde.
Eindringlich beschreibt Becht die neue politische Situation ab 1830, als die badische Regierung unter dem Gemäßigten von Winter von ihrer Konfrontationshaltung Abstand nahm, statt dessen mit wechselnden Parlamentsmehrheiten die wichtigen Reformgesetze (Gemeindeverfassung, Feudalentlastung, Pressegesetze) auf den Weg brachte und somit den "Karlsruher Frühling" einleitete. Allerdings stieß der Grundkonsens des "Systems Winter" bei der Justizreform wie auch in der Frage des Deutschkatholizismus an seine Grenzen; er zerbrach spätestens mit dem Regierungsantritt des Hardliners von Reitzenstein, der auf Konfrontationskurs ging und die Rücknahme der liberalen Zugeständnisse suchte. Der bekannte Urlaubsstreit bildete ein Fanal für die Radikalisierung auf beiden Seiten, durch die sich die Opposition in einen gemäßigten und radikalen Flügel aufspaltete.
Die Verschärfung der politischen Fronten bereitete den Boden für die Eskalation im Revolutionsjahr 1848/49. Zu Recht betont Becht, dass die Revolution für Baden weniger als Bruch zu sehen ist, denn vielmehr als "eine Art Scharnier, das die Transformation des Systems in Richtung auf eine verfassungskonforme Regierungsweise ermöglichte" (827). Der epochale Einschnitt fand somit nicht statt, als revolutionär ist hingegen die gesamte Entwicklung in Baden anzusehen - gerade im Vergleich zur Lage des Parlamentarismus in den anderen deutschen Staaten.
Es war vor allem die Person des neuen Großherzogs Friedrich I., welche in den 1850er Jahren das innenpolitische Vakuum füllte und die nicht zuletzt auch für liberale Ideen offen war. Spätestens seit 1855 gelang den wieder erstarkten Liberalen der "Marsch durch die Institutionen", der schließlich in die "Neue Ära" münden sollte. Entsprechend warteten Regierung und Parlament zu Beginn der 1860er Jahre mit einer Reformwelle auf, die nur mit jener der frühen 1830er Jahre vergleichbar ist. Wie damals wiederholte sich jedoch auch in der "Neuen Ära" ein Stück weit die Geschichte: Erbitterte ideologische Kämpfe etwa um das Verhältnis zur Kirche wie auch zum deutschen Dualismus führten zur neuerlichen Spaltung des Liberalismus, aus welchem die modernen politischen Parteien hervorgingen. Insbesondere der erstarkte Ultramontanismus führte zur neuerlichen Öffnung der Politik für die breiten Massen, die in einer neuen Volkspartei zusammen fanden. Diese neue politische Basis sollte die Geschicke Badens auch im Deutschen Reich nach 1871 prägen.
Die Arbeit ist angereichert mit einem Dutzend Übersichtstabellen vor allem zu Wahlergebnissen und Abstimmungsverhalten. Ein ausführliches Personenregister sowie ein Orts- und Sachregister runden den Band ab und erleichtern den Zugriff zu Einzelfragen. Wer sich auch immer in Zukunft mit der Geschichte des süddeutschen Parlamentarismus, mit dem badischen zumal, beschäftigen will, wird um Bechts Handbuch nicht mehr herumkommen. Seine Studie bildet einen Meilenstein, womit auf dem Fundament einer gesättigten Quellengrundlage und profunder Literaturkenntnis Maßstäbe auch für andere vergleichbare Arbeiten gesetzt sind.
Harald Stockert