Martin C. Wald: Die Gesichter der Streitenden. Erzählung, Drama und Diskurs des Dreißigjährigen Krieges, 1830 bis 1933 (= Formen der Erinnerung; Bd. 34), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 603 S., ISBN 978-3-89971-448-7, EUR 72,00
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Die - schon allein von ihrem Umfang her - gewichtige überarbeitete Berliner Dissertation geht den konfessionell geprägten Geschichtsbildern nach, die Literaten, Publizisten und Wissenschaftler in einem mit den Stichdaten 1830 und 1933 definierten Jahrhundert über den und vom Dreißigjährigen Krieg produziert haben. Sie geht dabei von drei - richtigen - Grundannahmen aus: dass die Konfession im 19. Jahrhundert eine ungleich größere Bindekraft und Disziplinierungsfähigkeit hatte als später, dass die Geschichte wenigstens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine überragende Qualität als Deutungssystem gewann, und dass Literarizität innerhalb des damaligen Geschichtsdiskurses geeignet war, "historische Deutungshaushalte zu emotionalisieren und zu ästhetisieren" (20).
Dabei geht es dem Verfasser freilich nur um solche literarischen Produkte, die entweder Gesamtdeutungen des epochalen Konflikts enthielten oder ihren Schwerpunkt auf den so genannten Schwedischen Krieg (1629-1635) legten - als der (vermeintlich) "konfessionell umstrittensten Periode des Krieges". Aber auch für diese Zeitspanne wurde dann insofern noch einmal eine Beschränkung vorgenommen, als der gesamte Wallenstein-Komplex ausgeblendet wurde. Und schließlich blieben auch die einschlägigen literarischen Produktionen des Ersten Weltkriegs und des Revolutionsjahrs 1848 unberücksichtigt.
Aber trotz dieser Selbstbeschränkungen ist das Corpus der zugrundegelegten Texte gewaltig: 186 belletristische Werke sind ausgewertet worden, freilich nun nicht im Sinn einer vordergründigen Rezeptionsgeschichte jenes Mittelteils des Krieges, sondern in dem Sinn, die historischen "Gedankengebilde" und die jeweilige "geschichtskulturelle Repräsentation" zu rekonstruieren und zu analysieren.
Nach einer langen "Einführung", die zu überspringen der Verfasser dem Leser anheimstellt (!) (26), in der unter anderem die Begrifflichkeiten behandelt werden, entwickelt Kapitel II den großen Rahmen, der das historische Wissenssystem des 19. Jahrhunderts auf das religiöse und literarische Wissenssystem "niedersenkte" und die Meistererzählung vom "verlorenen Sohn" in die der "feindlichen Brüder" verwandelte. Die Kapitel III bis V thematisieren drei Diskurse zum Krieg, die für das 19. Jahrhundert paradigmatisch waren: die Zerstörung Magdeburgs, die Hexenproblematik und das Gegensatzpaar Gustav Adolf und Tilly. Der Verfasser glaubt auch hier, dem Umfang der Arbeit Rechnung tragen zu sollen, indem er darauf verweist, dass er jeweils abgeschlossene Darstellungen konzipiert habe, "die für sich allein mit Gewinn gelesen werden können". Kapitel VI ist dem Motiv des "Volks in der Wüste" und seiner Popularisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gewidmet, Kapitel VII fragt nach dem Status von Geschichtlichkeit, Konfiguration und Diskurs des 30jährigen Krieges in der Zwischenkriegszeit ("Krise des Historismus"), Kapitel VIII schließlich gibt eine Zusammenfassung und einen Ausblick.
Das ist ein ungemein anspruchsvolles Forschungsdesign, das um die immer wieder aktuelle und brisante Frage nach dem Gegen-, Neben- und (zeitweise auch) Miteinander von Protestanten und Katholiken in Deutschland in dem oben genannten Zeitraum kreist, nach dem "ständig erneuerten Gegensatz zweier gesellschaftlicher Gruppen [...], die um Macht und Einfluss in der Nation kämpften und dabei das gesamte Arsenal an effektiver Überredung und argumentativer Überzeugung nutzten", den der historisch-literarische beziehungsweise historisch-politische Diskurs bereitstellte (33). So wie vor etlichen Jahren einmal versucht wurde, die gesamte Reichsgeschichte nach dem Westfälischen Frieden auf den konfessionellen Gegensatz zu reduzieren, ist das zwar eine vielleicht zu monokausale, aber irgendwie dann doch auch wieder legitime Ausgangsbasis. Sie ist umso beeindruckender, als der tiefe Griff in die Kiste der einschlägigen - belletristischen oder wissenschaftlichen - Literatur manche Überraschung bereit hält, bis hin zu nahezu unbekannten Autoren, die man dem Bereich der Trivialliteratur zuordnen könnte und müsste.
Eine Reihe von Ausstellungen will ich nicht übergehen. Es macht sich nicht sehr gut, wenn man die Namen von Hochschullehrern, die das Entstehen der Arbeit begleitet haben, falsch schreibt (13). 1998 wurde des 350. Jahrestags des Westfälischen Friedens, nicht des 250., gedacht (19 Anm. 8). Ob sich der Begriff der "Belletristifizierung" wohl auf breiter Front durchsetzen wird? In Anm. 190 (67) muss es "unerlässlich" statt "unablässig" heißen. Und auch sprachlich-stilistisch ist dies und jenes auszusetzen, weil das Sprachniveau sich doch manchmal deutlich dem der Umgangssprache nähert; ob man die Aussage, Hayden White sei an dieser oder jener Stelle zu "packen", nicht auch anders ausdrücken könnte? Schließlich soll auch nicht verschwiegen werden, dass das beigegebene Bildmaterial von eher bescheidener Qualität ist.
Das und anderes soll aber nicht den Blick dafür verstellen, dass unter einer präzisen Fragestellung hier ein immenses Material erschlossen wird, das die Mentalitäts-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte Deutschlands in einem unkonventionell terminierten Jahrhundert vielfältig bereichert und die Rezeptionsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges auf eine neue Grundlage stellt. Wie sich die Dinge nach 1945 wohl verändert haben werden?
Heinz Duchhardt