Folker Reichert: Gelehrtes Leben. Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 79), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 459 S., ISBN 978-3-525-36072-9, EUR 49,90
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Folker Reichert / Eike Wolgast (Hgg.): Karl Hampe. Kriegstagebuch 1914-1919, München: Oldenbourg 2004
Karl Hampes "Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer" (Leipzig 1909; nach vielen Auflagen nochmals Darmstadt 1979) war noch vor 40 Jahren Lektüreempfehlung mediävistischer Proseminare; heute spielt dieses Buch keine Rolle im akademischen Unterricht. Der Rezensent hatte keine Erinnerung mehr daran und das sondierende Wiederlesen brachte nur den Eindruck: Edle Prosa, schöne Hülle abgesunkener Geschichtsauffassung von vor 100 Jahren, Geschichte vorwiegend unter dem Primat des Machtstaatsgedankens gesehen ("Rastlos durchzog dieser ganz auf Tat gerichtete Willensmensch [Friedrich Barbarossa] seine Reiche, die Hand am Schwert oder am Richterstab"; 7. Auflage 1937, 137). Ähnlich zeitgebunden die beiden anderen Bücher des Mediävisten: "Herrschergestalten des deutschen Mittelalters" (1927) von Theoderich bis zu Karl IV. und "Das Hochmittelalter" (1932), eine sich der Kulturgeschichte öffnende Gesamtdarstellung. Wozu jetzt eine Biografie?
Karl Hampe (1869-1936), aus Bremen gebürtig wie der Spätmittelalterhistoriker und Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde (1858-1941) und aus einer bildungsverhafteten Buchhändlerfamilie stammend, hatte in Bonn und Berlin Geschichte und Nationalökonomie studiert. In Berlin war er durch die methodisch strenge Schule der mittelalterlichen Quellenkritik des eigenwilligen Paul Scheffer-Boichorst gelaufen, mit einer für die Zeit ungewöhnlich umfangreichen Arbeit über den Staufer Konradin promoviert und im Anschluss Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica (MGH) geworden. Dort trat er in die Abteilung Epistolae ein, für die er zwischen 1895 und 1897 Bibliotheksreisen nach England, Nordostfrankreich und Belgien unternahm, Reisen, deren reicher Ertrag und publizistischer Niederschlag noch heute zitiert werden. Er entdeckte dabei die von ihm so genannte "Capuaner Briefsammlung" aus dem 13. Jahrhundert zur Geschichte Friedrichs II., aus der er immer wieder schöpfte, die jedoch erst jetzt vollständig bei den MGH publiziert wird. Die spätstaufische Geschichte wurde zu seinem bevorzugten Arbeitsfeld und die zu anonymisierten Stilmustern geschusterten Briefsammlungen jener Zeit historisch fruchtbar zu machen, hat Hampe besonders gereizt. Nach einer kurzen Lehrtätigkeit als Extraordinarius in Bonn (1899) wurde Hampe Ende 1902 auf ein Ordinariat nach Heidelberg als Nachfolger des politisierenden Historikers Dietrich Schäfer ("Flottenschäfer") berufen, wo er 31 Jahre lang, bis zum vorzeitigen Emeritierungsgesuch Ende 1933 fast ohne Unterbrechung lehrte. Hampes Schülerschar war umfangreich und in der Themenwahl weit gestreut; zu den bedeutenderen gehörten Friedrich Baethgen, Walter Holtzmann, Percy Ernst Schramm, Gerd Tellenbach.
Zwar selbst kein Herausgeber deutscher Königsurkunden im Programm der MGH, war Karl Hampe doch eigentlich "Urkundione", wie Jacob Burckhardt solcherlei an Quellen klebende Spezialforscher zu schmähen beliebte, war zugleich aber auch nachdrücklich der Geschichtsschreibung als Aufgabe für den Historiker verpflichtet. Und es ist durchaus vorstellbar, dass dieses Oszillieren zwischen präziser Quellenarbeit und der eigentlichen Aufgabe des Historikers, Vergangenheit deutend darzustellen, auf die Schülerschaft besonders anziehend wirkte. In der literarisch durchgeformten Darstellung verfügte Hampe über eine solche Geläufigkeit, dass er in der Rückschau im Zusammenhang mit seiner Dissertation schrieb: "Eine Umgestaltung des ersten Entwurfes habe ich noch niemals für erforderlich gehalten." Als er den Auftrag der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die Jahrbücher Kaiser Friedrichs II. fortzusetzen, zurückgab, geschah dies nicht aus Abwendung von quellenorientierter Forschung, vielmehr war ihm die Jahrbüchermethode für die Darstellung der komplexen und an ganz anderen Fragestellungen zu orientierenden Geschichte des Stauferkaisers fragwürdig geworden. Hampes wissenschaftliches Ethos blieb bis zum Ende die kritisch von den Quellen ausgehende, dem Ranke'schen Ideal voraussetzungsfreier Wissenschaftlichkeit verpflichtete Gelehrsamkeit, betrieben und gelebt in drei Umbruchszeiten deutscher Geschichte. Als er in seinen letzten Lebensjahren eine wissenschaftliche Ehrenrettung Karls des Großen vornahm, der als "Sachsenschlächter" gegen einen völkischen vereinnahmten Widukind diffamiert wurde, trieb er allerdings - unfreiwillig - den Teufel mit Beelzebub aus. Propagandaminister Goebbels, den einst Hampe im Rigorosum beinahe hätte durchfallen lassen, befand, Karl der Große sei "nichts Geringeres als der Schöpfer der deutschen Reichsidee gewesen" (277).
Dies alles ereignete sich in Heidelberg, an einer der liberalsten Universitäten des deutschen Reiches, Biotop besonderer Gelehrtenkreise wie dem um Max Weber und dem Kreis um Stefan George, mit denen Hampe distanziert, aber sympathisch (über Ernst Kantorowicz und den Sohn Roland bei George) zusammenhing. Der "Heidelberger Geist" von damals erscheint heute wie ein Idyll - der Gelehrte selbst umschrieb es mit der Wendung "Künstlertum des Geistes" -, doch hat Hampe hier auch seine eigene Wandlung von einem obrigkeitstreuen und die Harmonie der "Volksgemeinschaft" ersehnenden zu einem Rassedenken zurückweisenden und den gewöhnlichen Antisemitismus ablegenden Bürger erfahren. Karl Hampe lebte zutiefst dem Ideal, sich durch Bildung als Mensch zu vervollkommnen. Wissenschaft war dazu nur einer von vielen Wegen. Der Gelehrte war selbst ein hingebungsvoller Sänger und pflegte in seinem Haus die Geselligkeit von Musik und Tanz; seine Kinder haben durchweg musische Berufe ergriffen.
Diesem unspektakulären, im Mangel an äußerer Bewegtheit fast langweilig wirkenden Gelehrtenleben eines wilhelminisch geprägten Mandarin, eines "Geheimrat" in Titel und Habitus, weiß Folker Reichert in seiner Biografie Staunenswertes abzugewinnen. Er hat sie als "typisches", "exemplarisches" Leben innerhalb der deutschen Geschichte und der von der Erforschung des Mittelalters angelegt, wie er im zusammenfassenden Schlusskapitel beschreibt (317ff.), doch es hätte dieser nachgestellten Rechtfertigung gar nicht bedurft. Reichert hat eine faszinierende, facettenreiche Darstellung geschaffen, die sich als detailsatter Leitfaden durch die Geschichte des gelehrten Lebens im Deutschland jener Zeit herausstellt, viel farbiger als der ominös-raunende Titel verheißt. Man erfährt bei ihm ungemein viel, was man sonst kaum so liest: Wie ein Privatdozent um 1900 sein Dasein bestritt, wie schnell die Universität damals Berufungen vornehmen konnte, wie profitabel für einen Professor damals noch das Bücherschreiben war; doch ist damit der Reichtum an Themen und Beobachtungen nur angedeutet. Reichert hat einen besonderen Sinn für das sprechende Detail, das er urteilssicher mit den Augen eines Ethnografen dieser ganz abgesunkenen Welt herausgreift, umso mehr, als Hampe selbst als dramatisch-polarisierender Held der Erzählung nicht taugt. Dem Biografen stand dazu - von der inzwischen reichen Literatur zur Wissenschaftsgeschichte ganz abgesehen - ein vielfältiges Material aus Nachlass und Akten zur Verfügung, eine aufschlussreiche Selbstdarstellung seines Bildungswegs als Historiker aus dem Jahre 1925, die Ausgabenhefte des Studenten und die Einnahmenbücher des Privatdozenten, natürlich Briefe aller Art, nicht zuletzt die Tagebücher, die Hampe zu historischen Umbruchszeiten begann (1914 und 1933) und zur kritischen Prüfung seiner Umwelt und zur eigenen Selbstvergewisserung führte. Die umfangreichen und dem Leser einige Geduld abverlangenden Kriegstagebücher von 1914 bis 1919 hat Reichert zusammen mit Eike Wolgast bereits 2004 herausgegeben [1], doch greift seine Lebensbeschreibung noch um einiges höher. Denn letztlich geht es um die Frage, wie ein gelehrtes, der abwägenden Vergangenheitserkenntnis bestimmtes Leben überhaupt möglich sei in Zeiten des Umbruchs und der ideologischen Schlachten, damals wie heute.
Anmerkung:
[1] Vgl. auch Gerhard Hirschfeld: Rezension von: Folker Reichert / Eike Wolgast (Hgg.): Karl Hampe. Kriegstagebuch 1914-1919, München: Oldenbourg 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: http://www.sehepunkte.de/2005/03/5792.html
Markus Wesche