Philip Ford / Jan Bloemendal / Charles E. Fantazzi (eds.): Brill's Encyclopaedia of the Neo-Latin World. Micropaedia (= The Renaissance Society of America. Texts and Studies Series; Vol. 3), Leiden / Boston: Brill 2014, XXXVI + 1245 S., ISBN 978-9-0042-6572-1, EUR 395,00
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Die Encyclopedia hat zum Ziel, die Produktion an literarischen und nichtliterarischen Texten in lateinischer Sprache umfassend zu erschließen, die nach der Neuausrichtung der lateinischen Sprache an den Stil- und Bildungsidealen entstanden, die Gelehrte und Literaten seit Petrarca aus den mit neuen Augen gelesenen und den neuentdeckten Werken der klassischen Antike entwickelten. Der Titel deutet bereits an, dass der Gegenstand nicht nur literarische Hervorbringungen sind, sondern dass als "the Neo-Latin World" ein weites historisches Umfeld erfasst werden soll. Das Forschungsfeld der neulateinischen Studien, das erst seit den 1970er Jahren von den Löwener Neo-Latinisten konstituiert wurde, soll hier auf neue Grundlagen gestellt werden, die über philologische und intertextuelle Arbeit im engeren Sinne hinausgehen.
Die Encyclopedia geht deshalb weit über den Vorgänger "Companion of Neo-Latin Studies" von 1977 bzw. 1990/98 hinaus, sowohl quantitativ als auch in der Darbietung des Stoffes. Die Beiträger haben das Material in 66 grundlegenden Kapiteln von jeweils 10-18 Seiten innerhalb einer "Macropedia" dargelegt, hinzu kommen kurze Artikel begrenzten, spezifischen Inhalts von nicht mehr als 5 Seiten in der "Micropedia", ein Vorgehen, das man aus der Encyclopedia Britannica kennt. Die Micropedia-Autoren sind in der Regel auch die der Macropedia. Die thematischen Abschnitte der Macropedia gehen von "Language and Education" - gewissermaßen den Grundlagen des Neulateins -, über "Latin and Printing", die literarischen Gattungen, das Verhältnis zur Bildenden Kunst, "Latin and the New World" bis zur Geschichte der Neulateinischen Studien. Die Micropedia ist alphabetisch angelegt, von "Adversaria" bis "Zoology", zumeist Sachbegriffe umfassend, hinzu kommen biographische Kurzportraits der Personen, die für das Neulatein als bedeutend erachtet wurden (dreimal Erasmus, zweimal Lorenzo Valla). Die Erschließung besteht aus einem Register der Eigennamen und einem von geographischen Namen; ein Sachregister gibt es nicht, was angesichts der über viele Kapitel gespannten Informationen die gezielte Benutzung und das Wiederfinden unmöglich macht. Ein Anhang von 19 Farbabbildungen wiederholt überwiegend die s/w Abbildungen innerhalb der Kapitel; über die Notwendigkeit mancher Abbildungen lässt sich streiten. Viele Informationen hätten sich in ergänzenden Tabellen und Listen vorteilhaft darstellen lassen. Nur ein Beispiel: Das Verhältnis von Handschriftenfund, editio princeps und Kommentar lateinischer Klassiker stünde solcherart auf einen Blick vor Augen. So wie die Encyclopedia jetzt beschaffen ist, muss man sich mit einem Stapel Notizpapier wappnen.
Die einzelnen Kapitel sind unterschiedlicher Natur: Solche, die eine allgemeine Übersicht oder die generelle Entwicklungslinien bieten (z. B. Karl Enenkel, The Neo-Latin Commentary, Kap. 17), stehen neben anderen, die ihren Gegenstand aus dem Quellenmaterial heraus entwickeln. Hier sind gleich die ersten beiden Kapitel von Marianne Pade, From Mediaeval Latin to Neo-Latin und Johannes Ramminger, Neo-Latin: Character and Development rühmend hervorzuheben, die die eigenen Konzeptualisierungen der frühen Humanisten auf bisher so nicht gelesene Weise beschreiben. Wer auch immer die Beschäftigung mit lateinischer Prosodie lästig findet, sollte dennoch den Artikel von Philip Ford, Neo-Latin Prosody and Versification studieren, der einen faszinierenden Überblick über die Lernmethoden und über die Lehrbücher der Prosodie gibt. Kernstücke für das Verständnis der humanistischen Bewegung sind auch Charles Fantazzi, Revival of Classical Texts und das gedankenreiche und zugleich umfangreichste Kapitel in der Macropedia von Jan Bloemendal - Henk Nellen, Philology: Editions and Editorial Practices in the Early Modern Period, der die Entwicklung des Editionshandwerks bis zur Lachmannschen Methode und New Philology führt. Hierzu gehört auch der Beitrag von Andrew Taylor, Textual Transaction and Transformation in the Renaissance Printed Book, der die typographische Genese der wissenschaftlichen Textausgabe aus den Motiven des Nutzerbedarfs und der Buchästhetik anschaulich beschreibt. Die ersten beiden Abschnitte der Macropedia, die die historische Entfaltung der humanistischen Bewegung, ihrer Methoden und ihrer Verbreitungswege darstellen, dürften für die meisten Benutzer die erste Anlaufstelle sein. Die Darstellung der Gattungen der weiter entfalteten neulateinischen Literatur und ihrer Geschichten dürften einem weiteren wissenschaftlichen Publikum nicht geringen Erkenntnisgewinn bringen, was mit einer geringeren Gewichtung der Literatur des frühen Humanismus bis gegen 1500 einhergeht. Gleiches gilt für die Kapitel über die Fachliteratur. Die wissenschaftliche Dokumentation innerhalb der einzelnen Artikel ist nicht einheitlich gestaltet. Manche führen einen mehr oder weniger ausführlichen Fußnotenapparat, andere nur eine Literaturliste am Ende, die in der Micropedia dann "Further Reading" heißt.
Die Micropedia unterrichtet auch über Gegenstände der "neulateinischen Welt", die für den um einen ersten Zugriff Bemühten eher am Rande liegen, wie in den Beiträgen von Dirk Sacré "Coins and Medals" und "Inscriptions". Beide Artikel sind nützlich, wenn gedruckte Sammlungen oder wie bei den Inschriften die Entwicklung einer eigenen literarischen Gattung beschrieben werden. Im Umgang mit den Gegenständen selbst, Medaillen und materiellen Inschriften, und in Fragen der historischen Kontingenz führen sie nicht weit. So vermisst man z. B. unter der angeführten Literatur zur Medaillengeschichte das Werk von Ulrich Pfisterer, Lysippus und seine Freunde (2008), bei den Inschriften eine angemessene Behandlung der Erneuerung der Inschriftenkapitalis unter Papst Sixtus IV. in Rom. Der Beitrag über "Editing Neo-Latin Texts: Editorial Principles; Spelling and Punctuation" von Tom Deneire hat den Charakter eines Ratgebers, der in vielem nicht über die auch aus anderen Gebieten der Editionspraxis bekannten Probleme hinausgeht und eher die leicht chaotische Lage beschreibt als hilfreiche Regeln an die Hand gibt. Gewinnbringender sind Einträge wie "Educational Treatises from Italy" von Craig Kallendorf oder der anschließende "Ekphrasis (and Art)", zu dem der weitgespannte und nützliche Macropedia-Beitrag "Neo-Latin and the Visual Arts in Italy" von Maia Wellington Gahtan zu lesen ist, der auch auf das für die Traditionsbildung wesentliche hellenische Element hinweist; doch dies geschieht auch in vielen anderen Beiträgen.
Was leistet die Encyclopedia im Feldversuch? Nehmen wir den "Humanismus in Deutschland". In Josef Ijsewijns Companion to Neo-Latin Studies, 1 (1990) findet man "the German World" noch in einem eleganten Beitrag von 29 Seiten einschließlich ausführlicher Bibliographie dargestellt. Als erster Zugriff in der neuen Encyclopedia bietet sich der Micropedia-Artikel "Neo-Latin Literatury - The German Regions" mit 5 ½ Spalten an, der bis zum Ende des 16. Jahrhunderts führt. Unter "Further Reading" vermisst man hier den Sammelband "Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten", Göttingen 2002. Er wird lediglich im (lesenswerten) Kapitel "The Theory and Practice of History in Neo-Latin Literature" von Marc Laureys zu Flavio Biondo zitiert (371 Anm. 40). Im Beitrag über "The German Regions" wird zwar knapp auf die Initialwirkung von Enea Silvio Piccolomini und der Universität Wien verwiesen, jedoch einen eigenen Micropedia-Artikel auf den für den Humanismus in Deutschland (und auch sonst) maßstabsetzenden Piccolomini sucht man vergebens: Seine originelle und folgenreiche Verbindung von Chorographie und Zeitgeschichte ist durch das Raster der Encyclopedia hindurchgefallen, seine früh gedruckten Briefsammlungen waren dem Micropedia-Beitrag "Letter Collections" (1028-1034) keine Bemerkung wert. Andererseits findet man unter den insgesamt wenigen biographischen Einträgen einen unerwarteten über "Luther, Martin" ("his Latin was still quite good", 1040). Eher fündig wird man bei den "Printing Centres". Hier gibt es eigene Einträge für Basel und Strasbourg. Im Übrigen ist man auf die Nachweise im Personenregister angewiesen. In der "Neo-Latin World" hat der deutsche Humanismus nicht recht Platz, doch das hat man schon bei kursorischer Durchsicht vermutet. Für Konrad Celtis, Konrad Peutinger u.a. ist man auf das jüngst abgeschlossene "Verfasserlexikon. Deutscher Humanismus 1480-1520" (2006-2015) angewiesen und wird dort vorzüglich bedient.
In einem Werk, in dem die Verbreitung der Buchdruckerkunst eine tragende Rolle spielt, kann der gedruckte Irrtum nicht fehlen. "Schede" muss Schedel (Hartmann) heißen (1078), Chytraeus ist richtig statt Chrytaeus (231), (109) sind Corbie und Corbei das westfälische Corvey, und der im Register in dieser Form klugerweise nicht verewigte Karl Jachmann (111) ist natürlich der Philologe Karl Lachmann. Es sei versichert, dass diese Zufallsfunde das Vergnügen, das die Benutzung der Encyclopedia insgesamt bereitet, nicht beeinträchtigen. Wer nicht unter einem ökonomischen Zeitdiktat stehend gezielt sucht, wird viele Anregungen und kluge Gedanken finden, und sich an dem bereichern, was ihm geboten wird, wenn er das Werk aus dem Regal zieht. Doch das wird er zuhause als Privatmann kaum können, dafür sorgt schon der prohibitiv hohe Preis.
Markus Wesche