Konrad H. Jarausch / Klaus Jochen Arnold (Hgg.): "Das stille Sterben...". Feldpostbriefe von Konrad Jarausch aus Polen und Russland 1939-1942. Mit einem Geleitwort von Hans-Jochen Vogel, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, 387 S., ISBN 978-3-506-76546-8, EUR 34,90
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Ein Kind wird geboren im August 1941. Ein Mann stirbt im Januar 1942. Er ist der Vater des Kindes. Aber er wird es nie zu Gesicht bekommen. Denn es ist Krieg. Aber beide tragen denselben Namen: Konrad Jarausch.
Jahre später wird der Sohn das sichten, was von seinem Vater übrig geblieben ist: Etwa 350 Feldpostbriefe in einem alten Lederkoffer. Er wird sie auswählen, kommentieren und edieren. Das ist das Buch, um das es hier geht. Es ist ein besonderes Buch geworden, ein intimes und nicht zuletzt auch ein eminent wichtiges. Dabei ist dieses Genre mittlerweile gar nicht mehr so selten. Die zahllosen Erinnerungen, "Erfahrungsberichte", Tagebuch- und Briefeditionen, die Zeugnis ablegen über die Zeit der Weltkriege, sind kaum noch zu überblicken. Dieser Trend ist verständlich. Hier sprechen Menschen, die oft Unvorstellbares erlebt haben. Sie haben ein Recht darauf, dass ihre Erfahrungen nicht mit ihrem Tod verschwinden. Trotzdem besitzt die Edition dieser Feldpostbriefe ganz andere Qualitäten. Warum ist das so?
Zunächst liegt es an der Person, die hier schreibt. Konrad Jarausch, am 12. Dezember 1900 in Berlin geboren, war ein typischer Vertreter des deutschen Bildungsbürgertums. Für ihn war das allein ein Ergebnis von Leistung, nicht aber das eines angestammten Anspruchs. Der hochbegabte, aber ausnehmend zarte und nach außen spröde wirkende Schüler legte im Oktober 1917 seine Notreifeprüfung ab, um von 1918 bis 1925 Deutsch, Geschichte und evangelische Theologie zu studieren. Nach Promotion und Staatsexamen folgte der Schuldienst, seit 1935 die Leitung des Heims für Studienreferendare am Kloster "Unser Lieben Frauen" in Magdeburg. Auch seine Frau, Lotte Petri, die Jarausch 1933 heiratete, war Religionslehrerin. Die beiden repräsentierten also ein Milieu, das man als durch und durch protestantisch, preußisch und auch national bezeichnen könnte, das sich aber auch durch eine ungewöhnliche Intellektualität auszeichnete.
Selbstverständlicher Bestandteil dieses nationalkonservativen Milieus war der "Dienst fürs Vaterland". Das verweist auf eine weitere Linie im Lebenslauf Jarauschs, die militärische. Sie hatte schon früh begonnen, 1918 mit seiner ersten Einberufung, um aber mit dem Ende des Ersten Weltkriegs schon bald wieder abzubrechen. Zum Einsatz hatte es nicht mehr gereicht. Ein Bild aus diesem Jahr zeigt einen erschütternd dürren, bebrillten Kindersoldaten, der in seinen Kommissstiefeln schier zu versinken scheint - ein Zeugnis, das viel aussagt über den militärischen Ersatz, den die deutsche Militärmaschinerie selbst im vierten Kriegsjahr noch verschlang. Trotz der nicht gerade erhebenden Erfahrungen während seiner kurzen militärischen Ausbildung war Jarausch, der in den 20er Jahren mit der DNVP sympathisiert hatte, vom Sinn seiner zweiten Einberufung im September 1939 durchaus überzeugt. Zwar war es bei einer Natur wie der seinen nur eine Frage der Zeit, dass ihm der Militärdienst, so wie er ihn kennenlernte, als "nutzlos vertan" (08.01.1940) vorkam. Er müsse "aus dem Leben gestrichen werden". Aber schon sein Einwand, dies sei "doch eine törichte Versuchung", lässt seine Ambivalenz erkennen. Desillusionierend war zweifellos der Charakter des militärischen Umfelds, in das Jarausch geraten war, die sehr spezielle Welt der Landesschützenbataillone, wo primär die älteren, meist wenig motivierten Jahrgänge zum Einsatz kamen und auch solche Vorgesetzte, die für die aktive Truppe nicht mehr taugten. "Es ist die eigentümliche Lähmung der Energie, die ein Leben, wie wir es führen, mit sich bringt und der man selbst genau so unterworfen ist", sollte sich Jarausch am 5. September 1941 eingestehen: "Nichts vornehmen, nichts denken. Am liebsten schlafen, dösen oder Karten spielen." Etwas kompensiert wurde diese Tristesse durch seine Beförderung zum Feldwebel im Mai 1940. Auf jeden Fall: Mit seinem vergleichsweise hohen Lebensalter war Jarausch ein typischer Vertreter der Etappe, also eines Einsatzraumes der Wehrmacht, aus dem wir relativ wenige persönliche Zeugnisse besitzen.
Aus dieser Perspektive sollte dieser uniformierte Religionslehrer in den nächsten Jahren den Krieg erleben. Im Polenfeldzug fuhr er "bequem und gemütlich im 3. Klasse-Abteil" (09.09.1939) der rasch vorrückenden Front hinterher und im besetzten Polen sollte er dann in den folgenden Monaten auch bleiben. Dort lernte er als Ausbilder bei den Landesschützen nicht nur den Kommissbetrieb gründlich kennen, "wo es um einen nach Schweiß und Leder riecht" (16.06.1940), sondern auch "Armut und Elend" eines Landes (22.10.1939), das zum ersten Opfer nationalsozialistischer Expansionspolitik geworden war. Nach einem Intermezzo bei einer Ausbildungseinheit im Reich kam Jarausch schließlich im August 1941 zu einer Einheit, von der er nie mehr fortkommen sollte - sie verwaltete das Durchgangslager 203, ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene, das im Hinterland der Ostfront stationiert war. Dort erlag auch Jarausch am 27. Januar 1942 der Fleckfieberepidemie, die bereits unter den Gefangenen zahllose Opfer gefordert hatte.
Mit diesem kurzen Überblick über den militärischen Werdegang dieses Chronisten sind schon die großen Themen angedeutet, die im Zentrum seiner Briefe stehen - der Krieg, erst der in Polen und dann der in der Sowjetunion, das Innenleben der Wehrmacht, vor allem in ihren zahllosen Ausbildungseinheiten, und schließlich die Welt der deutschen Kriegsgefangenenlager. Dass Jarausch dabei das grauenhafte Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen selbst miterlebte, das insgesamt drei Millionen Menschen verschlang, unterstreicht noch einmal den besonderen Wert seiner Aufzeichnungen, die auch sonst Informationen in einer Fülle, einem Detailreichtum und in einer Reflektiertheit bieten, wie man sie nur selten findet.
Ein Grund dafür ist auch die zwiespältige Position dessen, der hier berichtet. Jarausch beobachtet aus dem Blickwinkel des einfachen Mannes - einfach im Hinblick auf seinen militärischen Rang, aber wohl kaum im Hinblick auf seine Person und seine Ausbildung. Genau diese Spannung macht seine Aufzeichnungen so ungewöhnlich. Er ist ein sehr genauer, geschulter Beobachter, der es versteht, seine Erfahrungen zu verarbeiten. Zuweilen sind daraus schon fast kleine soziologische Abhandlungen geworden. Hier ist jemand in das Getriebe der deutschen Militärmaschinerie geraten, für den die Analyse seines Umfelds zu einer Art Kompensation der eigenen Zwangslage geworden ist.
Nichts würde dem Charakter dieser ganz ungewöhnlichen Quelle mehr widersprechen, als die "Ergebnisse" dieser unzähligen Beobachtungen in wenigen dürren Worten zusammenzufassen. Einige Schlaglichter sollen stattdessen deren Potenzial veranschaulichen.
Höchst aufschlussreich sind etwa die abgeklärten Bemerkungen Jarauschs über die Hysterien, die der Krieg zwischen Polen und Deutschen auslöste - auf beiden Seiten. Während auf deutscher Seite "viel Schauergeschichten" im Umlauf seien (12.09.1939), während er selbst sinnlose Schießereien erlebte, nur weil vermutlich "Posten von uns losgeknallt" hätten (17.10.1939), registrierte er auch die Gerüchte der Gegenseite, "die Deutschen schneiden den Frauen die Brüste ab" (14.09.1939). Er schildert das "Elend der polnischen Bauern, die von Osten heimkehren", sowie "das der deutschen Flüchtlinge" oder "die merkwürdig geöffneten Gesichter und die großen Augen" der deutschen Soldaten, die "von vorn", also von der Front zurückkämen (16.09.1941).
Nicht weniger sensibel und auch vorurteilsfrei sind seine Eindrücke aus der Sowjetunion - ein Land, das er zuweilen als "herrlich still" und "ergreifend in seiner Weite und Ruhe" erlebte (13.08.1941). "Für unsereinen ist diese leere Weite überwältigend. Schildern kann ich sie nicht. Aber ihr Bild wird künftig auf dem Grund meiner Seele leben wie das des Meeres und das des Hochgebirges" (23.09.1941). Doch dazwischen drängt sich für ihn immer häufiger "Schmutz und Unrat" eines Krieges (14.08.1941), der schon bald immer unerbittlicher wird. Das alles sei "schon mehr Mord als Krieg", heißt es denn auch in einem Brief vom 14. November 1941. Gleichwohl erlebte er daneben auch ganz andere Szenen. So empfand er es als geradezu "grotesk, wie intim" viele deutsche Soldaten "mit den Russen verkehren - im Gegensatz zu allen Schlagworten - und wie beide Teile daraus ihre Vorteile ziehen" (16.09.1941).
Den mit Abstand größten historiografischen Wert besitzen aber seine detaillierten Schilderungen über jene Katastrophe, die seit Herbst 1941 über die deutschen Kriegsgefangenenlager in der Sowjetunion hineinbrach. [1] Jarauschs Briefe lassen sich als ein minutiöses Protokoll dieser Katastrophe lesen. Als er Mitte August im Dulag 203 eintraf, empfand er die Verhältnisse als "nicht schlimm", alles laufe von selbst (16.08.1941). "So friedlich ist alles, so in Ordnung" (Bericht vom August 1941). Schon am 23. Oktober berichtet er aber vom "furchtbarsten Elend, das mich bisher in meinem Leben berührt hat", am 14. November schließlich schreibt er über die Gefangenen: "Wenn sie erstarrt vor Frost - wir haben heute etwa minus zehn, gestern minus fünfzehn Grad am Tage gehabt - zum Essen kommen, taumeln sie, fallen um, sterben zu unseren Füßen. Heute ist wieder ein Fall von Kannibalismus festgestellt worden. Dabei sind diese Leichen, wenn sie nackt zu den Gräbern getragen werden, dürr wie ein spätgotischer Schmerzensmann, starrgefroren."
Doch ist seinen Aufzeichnungen nicht nur zu entnehmen, wie und wie schnell die Situation in den Lagern eskalierte. Sehr viel genauer fassbar werden auch die Motive der deutschen Bewacher, die bisher meist hinter den unpersönlichen und oft sehr allgemein gehaltenen Weisungen "von oben" zurückgetreten sind. Informativ ist beispielsweise Jarauschs Eingeständnis, sie seien bei der Verpflegung der Gefangenen "meist über die Sätze hinausgegangen" (26.08.1941), die Unteroffiziere würden "die Aufgabe, für die Gefangenen ein Dach zu schaffen und eine Verpflegungsmöglichkeit, doch jetzt sehr ernst nehmen" (03.10.1941), und echt ist seine Verzweiflung im November, es sei "schon schwierig, die regelmäßige Verpflegung in den knappen Grenzen durchzuführen" (14.11.1941).
Doch hat er auch ganz andere Stimmen überliefert, beispielsweise die eines deutschen Intendanten, der ihm kaltschnäuzig beschied, dass es eben nicht darauf ankomme, "wenn einige hundert Gefangenen sterben" (02.12.1941). Überhaupt registrierte Jarausch sehr genau die ideologischen Gegensätze in seinem Umfeld: "die alten und die neuen, die Weltkriegsteilnehmer und die jüngere 'nationalsozialistische' Generation" (29.12.1941).
Und Jarausch selbst? Bei einer Weihnachtsfeier verkündete er seinen Hiwis, "daß wir Deutschen keinen Haß gegen das russische Volk empfänden" (25.12.1941). Für ihn traf das zweifellos zu. Doch war Jarausch eben nicht allein in der Sowjetunion. "Dazwischen ist man nun geworfen", lautete sein Eingeständnis angesichts der entsetzlichen Verhältnisse um ihn herum, "ohne etwas tun zu können als das bisschen Pflicht" (14.11.1941). Darunter verstand er sicherlich nicht nur den militärischen Auftrag. Soweit ihm das möglich war, suchte er das Beste für "seine" Gefangenen herauszuholen. Als Küchenunteroffizier, der die Essensausgabe zu beaufsichtigen hatte, saß er in einer Schlüsselposition. Aber was konnte er dort wirklich erreichen? Am 8. Januar 1942 schilderte er eindringlich das "Trauerspiel", zu dem die Essenausgabe verkommen war: "Meine rechte Hand ist dick von den Faustschlägen, die ich austeile. Aber wenn man einen niederschlägt, springt der Nachbar nach vorn. Vielleicht wird es etwas besser, wenn wir jetzt regelmäßig Brot ausgeben können." Nicht weniger erschütternd sein lakonisches Eingeständnis über den "schmerzhaft-plötzlichen Abbruch" seiner Russischstunden: "Mein Lehrer hat sich als Halbjude herausgestellt" (07.11.1941). An solchen Passagen lässt sich erahnen, wie der Chronist selbst zu verorten ist. Ein Religionslehrer, ein zarter und im Grunde völlig unmilitärischer Mensch gerät in ein durch und durch inhumanes System, das ihn Stück für Stück für sich vereinnahmt. Fast könnte man sein Schicksal als Lehrstück begreifen, in zweifacher Hinsicht - zunächst als ein Beispiel dafür, wie schnell man unter solchen Umständen Dinge tut, die man sonst nie getan hätte. Und zum anderen auch als Mahnung, wie sehr man sich vor schnellen Schuldzuweisungen hüten sollte.
Dies alles lässt sich nun in einer Edition nachlesen, die eigentlich keinen Wunsch offen lässt - eine große Leistung von Konrad H. Jarausch und Klaus Jochen Arnold, die sich dabei fast schon perfekt ergänzt haben. Arnold war hauptsächlich für die Transkription und Kommentierung der Briefe zuständig und hat der Edition ein informatives wie exzellentes Kapitel über die militärische Situation vorangestellt, in der diese Briefe entstanden sind. Jarausch wiederum hat sich in einem biografischen Essay auf das Wagnis der "Vatersuche" eingelassen. Schriftliche Annäherungen dieser Art mögen Schriftstellern gelingen, manchmal. Aber den Historikern? Für sie ist ein solches Unterfangen gewöhnlich eine "mission impossible". Dabei ist es doch möglich, auch das hat diese Edition eindrucksvoll bewiesen.
Anmerkung:
[1] Dabei ist es ein erstaunlicher Zufall, dass auch Jarausch zum Dulag 203 gehörte, also just zu jenem Lager, über das wir bereits durch das Tagebuch seines Kommandanten, des Major Gutschmidt, ungewöhnlich viel wissen. Die beiden Berichte können sich also sehr gut ergänzen.
Christian Hartmann