Joost Welten: In dienst voor Napoleons Europese droom. De verstoring van de plattelandssamenleving in Weert, Leuven: Davidsfonds Uitgeverij 2007, 751 S., 162 Abb., ISBN 978-90-5826-499-2, EUR 39,95
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Zur Erringung der französischen Hegemonie über Europa stützte sich Napoleon I. auf eine Heeresmaschinerie zuvor ungekannter Größe. Ihr Grundgerüst bildete seit 1798 das stetig verfeinerte System der Konskription, das den beständigen Zustrom von Rekruten durch eine effektive Ausschöpfung des Reservoirs an wehrfähigen Männern aus allen Teilen des französischen Empires sicherstellte. Den mannigfachen Auswirkungen dieser neuen, durchdringenden Form der Heeresergänzung auf eine erst kürzlich der französischen Republik inkorporierte Landgemeinde in den vormals österreichischen Niederlanden, auf die Lebenswelten der Dienstpflichtigen und ihrer Angehörigen widmet sich die Utrechter Dissertation von Joost Welten. Seinem konkreten Untersuchungsraum, dem Landstrich um die nahe der holländischen Grenze gelegene Kleinstadt Weert (heute Provinz Limburg, NL) Rechnung tragend, stellt er dabei eine Frage ins Zentrum: Wie gelang es den Vertretern der französischen Herrschaft vor Ort, die ungeliebte militärische "Bürgerpflicht" in einer grenznahen, flämischsprachigen und zutiefst katholisch geprägten Landgemeinde durchzusetzen und ihrem Kaiser schließlich Hunderte junger Rekruten liefern zu können?
Welten geht diese Fragen auf breiter Front an, möchte von vornherein monokausale Erklärungen vermeiden und bezieht daher eine Fülle von Phänomenen und Entwicklungen in seine Untersuchungen ein. Dazu bedient er sich einer weiten Quellenbasis, die sich einerseits aus den mit reichen Beständen der napoleonischen Zeit bestückten Gemeindearchiven speist, andererseits auf auswärtigen Archiven, zuvorderst dem Archiv des französischen Verteidigungsministeriums in Vincennes fußt.
Nach einer Einführung in Fragestellungen und Forschungsstand, die zahlreiche Desiderate auf dem Gebiet der Sozial- und Kulturgeschichte des napoleonischen Militärs und das Fehlen solch mikrogeschichtlicher Studien zum Konskriptionswesen vor Augen führt, wird zunächst die sozioökonomische Struktur des ländlich-peripheren Untersuchungsgebiets skizziert (Kap. 1), das aufgrund von Arbeitsmigration und gewerblichem Güterverkehr durchaus in das europäische Wirtschafts- und Informationsgeflecht eingebunden war (Kap. 21). Es folgt eine intensive Auseinandersetzung mit dem bisher kaum erforschten bewaffneten Arm des französischen Staatsapparats vor Ort, den im Grenzgebiet aktiven Douaniers (Kap. 4), die den Kampf gegen das hier blühende Schmuggelgeschäft führen sollten und der Gendarmerie (Kap. 2, 6 und 26), also den beiden Organen, die wesentlich mit der Jagd auf Dienstpflichtverweigerer und Deserteure sowie deren Helfer betraut waren. Wie stark Schmuggel und Wehrdienstverweigerung miteinander verknüpft waren (Kap. 11), kann Welten genauso herausarbeiten wie die Schwierigkeiten, die gerade die Gendarmerie wegen zunehmender personeller Ausdünnung hinnehmen musste. Ihre dessen ungeachtet großen Erfolge beim Aufspüren von Deserteuren und Dienstpflichtverweigerern führt Welten auf ihre gestiegene Akzeptanz in der Bevölkerung, ihre gute polizeiliche Ausbildung und nicht zuletzt die Aufnahme Einheimischer in die eigenen Reihen zurück.
Um die öffentliche Ordnung zu garantieren, war der französische Staat auch in der lokalen Zivilverwaltung auf die Kooperation Einheimischer angewiesen. Die damit verbundenen sozialen Aufstiegschancen realisierend vertraten nicht nur vormalige Magistratsmitglieder wie der Weerter Maire Henry Bloemarts (Kap. 27) die französische Herrschaft vehement und effektiv, ohne allerdings ihre ambivalente Position als "Mittler" und damit den Respekt der Bevölkerung einzubüßen. Die Erfassung der Dienstpflichtigen in Konskriptionslisten, die öffentliche Bekanntmachung von Réfractaires und Deserteuren, aber auch die notarielle Beglaubigung von Einstandsverträgen und die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Auslosung der zum aktiven Kriegsdienst bestimmten Gemeindemitglieder fielen in ihren Aufgabenbereich, was sie zu Schlüsselfiguren für ein reibungsloses Funktionieren des Konskriptionssystems werden ließ (Kap. 3). Katalysierend wirkten persönliche Formen der Annäherung zwischen Repräsentanten des französischen Staates und der autochthonen Bevölkerung, was einige Heiraten napoleonischer Veteranen und Offiziere mit einheimischen Frauen zeigen (Kap. 7 und 18). Der Dienst im französischen Heer gewann dadurch nicht nur für die neuen Verwandten der in der Region naturalisierten Militärs an Attraktivität.
Dennoch schwankte der Erfolg bei der Durchsetzung der Konskriptionsgesetzgebung je nach Jahrgang deutlich, ja geriet wie im Jahre 1805 teils zum Debakel (Kap. 15). Die Ursachen führt Welten u.a. auf die militärisch-machtpolitische Lage des napoleonischen Kaiserreichs oder besser den Kenntnisstand hierüber zurück. Eine Analyse des diesbezüglichen Nachrichtenstroms mit dem abschließenden Befund einer erstaunlich gut informierten Bevölkerung bestätigt den Autor in dieser Annahme (Kap. 5). Letztlich vermochte man den Widerstand gegen die Militärpflicht, der nach Abschluss des Konkordats mit Pius VII. übrigens deutlich abnahm, jedoch nur mit harten Zwangsmaßnahmen zu brechen. Weder erhöhte Strafen und intensivere Kontrollen, noch die Indienstnahme der Geistlichkeit (Kap. 22), noch zwischenzeitliche Amnestieregelungen führten zum Durchbruch, sondern die rigorose Haftbarmachung der Familien von Deserteuren und Dienstpflichtverweigerern (Kap. 12) sowie die Ausübung gruppendynamischen Drucks durch die Einquartierung von Militär in ihrer Heimatgemeinde, koordiniert durch einen landfremden und äußerst ambitionierten Präfekten des Département Meuse inférieure (Kap. 16). Auf diese Weise erreichte man letztlich, dass weit über 80% der Flüchtigen doch noch ihren Weg in Napoleons Grande Armée antraten (Kap. 30).
Schicksal und Alltag der über 600 Wehrpflichtigen des Untersuchungsgebiets, aber auch etlicher freiwillig Dienender rekonstruiert Welten im Weiteren sehr genau, wobei er sich in erster Linie auf einen bemerkenswert großen Fundus von Soldatenbriefen stützen kann. Die Bandbreite seiner Befunde erstreckt sich über die Laufbahnen und Kriegserfahrungen der Dienstpflichtigen (Kap. 10 und 17), die Lebensumstände von Deserteuren und Réfractaires (Kap. 12), die Beweggründe und soziale Schichtung der Freiwilligen und Remplaçants (Kap. 19) sowie die spezielle Situation von Priesteramtskandidaten (Kap. 13) und verheirateten Dienstpflichtigen (Kap. 14) unter den immer engmaschiger werdenden Konskriptionsgesetzen. Zur Sprache kommen des weiteren die (außerehelichen) Beziehungsformen der Soldaten (Kap. 24), die Chancen von Veteranen und Invaliden auf dem heimischen Heiratsmarkt (Kap. 29), die militärinterne Musik- und Geselligkeitskultur (Kap. 25) und nicht zuletzt die Wege eines gemeinschaftlichen, die Illiteralität vieler Gefährten überbrückenden Kontakts mit der fernen Heimat (Kap. 23). Darüber hinaus erhellt Welten die oft dramatischen Folgewirkungen für die Angehörigen all jener Söhne, Väter und Ehemänner, auf deren Wehrkraft der französische Staat nun konsequent zugriff und die - im krassen Gegensatz zur Heeresergänzungspraxis des Ancien Régime - mit zunehmender Kriegsdauer und steigenden Preisen für Einstandsverträge (Kap. 20) aus einem immer breitgefächerteren Spektrum der Gesellschaft stammten. Den Abschluss bildet eine auf umfangreichem Zahlenmaterial beruhende Einschätzung der tatsächlichen Effektivität der ortsbezogenen Konskriptionspraxis, der Verteilung der Eingezogenen auf verschiedenste Einheiten der Grande Armée und schließlich des enormen Blutzolls, den die Landgemeinde Weert "im Dienst von Napoleons europäischem Traum" - so der etwas zweideutige Titel - zu entrichten hatte (Kap. 28 und 30).
Der Autor legt damit eine insgesamt äußerst fundierte Studie vor, die einige bisher weitklaffende Forschungslücken zu schließen vermag und dem Ruf nach lokalen Einzelstudien nicht nur zur französischen Wehrverfassung und ihren Implikationen, sondern auch zur napoleonischen Herrschaft im Allgemeinen mehr als gerecht wird. Durch eine vorbildliche Verknüpfung der Auswertung seriellen Quellenmaterials mit dem Studium von Selbstzeugnissen, der Kombination sozial- und kulturgeschichtlicher Ansätze gelingt Welten eine helle Ausleuchtung der zeitgenössischen Lebenswelten sowie eine akkurate Bestimmung der gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung und Militarisierung, sozialen Disziplinierung und administrativen Zentralisierung, die das Konskriptionswesen als ein Kernstück napoleonischer Staatstätigkeit auch und gerade für die "neufranzösischen" Departements mit sich brachte. In kritischer Auseinandersetzung mit der v.a. französischen Forschung zum Thema, die sich dem Phänomen bislang fast immer nur auf zentraler Ebene zuwandte, kann er zudem einige grundlegende Korrekturen an etablierten Forschungsmeinungen - z.B. in Bezug auf das Einsteherwesen oder die (angebliche) Exemtion verheirateter Dienstpflichtiger - vornehmen. Dass dazu eine eingehende Untersuchung von Einzelschicksalen unabdingbar ist, steht außer Frage, doch hätte diese in vielen Fällen etwas kompakter und zielgerichteter ausfallen können, ohne sich in orts- und lokalgeschichtlichen Details zu verlieren. So erfrischend frei Weltens Arbeit von unnötig verkomplizierenden Theoriedebatten ist, so hätte ihr eine klarere Gliederung orientiert an den Kernfragen sicher mehr argumentative Stärke und Geschlossenheit verliehen. Vielleicht hätte bei einem dann etwas geringeren Gesamtumfang auch auf die - schlichtweg störende - Verlagerung von Fußnotenapparat, Literaturverzeichnis und Index ins Internet (alternativ als Ausdruck vom Verlag für 15 Euro zu erwerben) verzichtet werden können.
Den Gesamteindruck einer äußerst bemerkenswerten Leistung im Rahmen einer zeitgemäßen Militärgeschichtsforschung zur napoleonischen Epoche, die die vielfältigen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Wechselwirkungen und Überlappungen zwischen zeitgenössischer Militär- und Zivilgesellschaft fokussiert, kann dies jedoch in keinster Weise trüben. Joost Welten hat die Messlatte für weiterhin dringend benötigte Studien auf diesem Forschungsfeld ein gutes Stück weit nach oben gelegt.
Florian Schönfuß