John Darwin: The Empire Project. The Rise and Fall of the British World-System, 1830-1970, Cambridge: Cambridge University Press 2009, XIII + 800 S., ISBN 978-0-521-30208-1, GBP 25,00
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In seiner jüngsten Überblicksdarstellung beschreibt John Darwin die Geschichte des britischen Empire als Auf- und Umbau eines sich ständig transformierenden Weltreiches. Die vierzehn Kapitel der beiden Teile über Ursprünge, Entwicklung, Phasen und Auflösung des Empire nutzt der Autor, um die globale Bedingtheit des britischen "Weltsystems" zwischen Weltwirtschaft und Weltpolitik im Netzwerk internationaler Beziehungen darzustellen. Darwins Hauptaugenmerk gilt den geopolitischen Bedingungsfaktoren des britischen Handelsimperiums. Konzeptionell verortet er sich an der Schnittstelle zwischen Empire-Geschichte, internationalen Beziehungen und Globalgeschichte.
Die Dynamik des Empire hält er in hohem Maße von den Kolonien bestimmt. Deshalb legt er besonderen Wert auf die "intra-imperial politics", die er als kontinuierliche Debatte zwischen Metropole und Kolonien über die Bedingungen der Zugehörigkeit und Ausgestaltung des Empire versteht. Besonderes Interesse gilt daher - für eine Empire-Geschichte nicht verwunderlich - dem Beitrag der 'weißen' Siedlungskolonien Australien, Neuseeland und Kanada für das Selbstverständnis von "Britishness", den Zusammenhalt der Nation und die wirtschaftliche Lebensfähigkeit, dem er auch in den 'Sub-Empires' Indien und Ägypten, im Nahen und Mittleren Osten nachgeht. Als zentral für die Macht des Empire versteht er die Aufgabe der britischen Imperialpolitik, die disparaten Elemente des Empire in Handel und Diplomatie integrieren, um auf Veränderungen reagieren zu können: Ohne diese Integrationskraft und Flexibilität wäre das Empire trotz bester geopolitischer und 'geoökonomischer' Bedingungen in Adam Smith's Worten "not an Empire, but a project of an Empire; not a gold mine, but a project of a gold mine" geblieben (20).
Neben Diplomatie- und Militärgeschichte knüpft Darwin an drei Traditionen der Empire-Geschichtsschreibung an: erstens an John Gallaghers und Ronald Robinsons "Imperialism of Free Trade" als formelle und informelle Herrschaftstechnik des Empire, zweitens an den Entwurf des "Gentlemanly Capitalism" der Londoner Handelsmetropole von Peter Cain und Tony Hopkins, drittens an sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungsansätze zur Verflechtung zwischen Kolonien und Empire, wenngleich er letzteren eher distanziert begegnet. Darwin interessiert sich eher für die "Idee" des Empire in ihren großen Linien als für deren alltägliche Praxis. In mancher Hinsicht handelt es sich um eine traditionelle Empire-Geschichte, die aber immer wieder interessante Einblicke eröffnet.
Das wird sichtbar, wenn Darwin die Leitidee der Expansion als Denken einer Seemacht charakterisiert, die von Küste zu Küste operierte und angesichts der territorialen Expansion ins Hinterland ihre Denkhaltung grundlegend verändern musste, Darwin hier dennoch keinen Masterplan eines "official mind" am Werk sehen möchte. Er befindet weder den Ansatz von Robinson/Gallagher als tragend, nach dem die geostrategischen Ziele der Expansion angeblich von den persönlichen Plänen großer Politiker dominiert gewesen seien, die imperiale Politik nach abstrakten Prinzipien des "nationalen Interesses" verfolgten, noch das Modell von Cain/Hopkins, nach dem sich Vertreter der Politik und der Handels- und Finanzwelt in der City of London gleichermaßen dem Ethos des "gentlemanly capitalism" verbunden fühlten. Die koloniale Expansion hält Darwin weniger von Whitehall mit kalter Rationalität betrieben als vielmehr von Privatleuten vor Ort, die er "lokale Brückenköpfe" nennt. Darwin bleibt seiner geostrategischen Sprache treu, deutet aber die Wichtigkeit lokaler Ressourcen für die Aufgabe des Empire-Managements an. Die Kategorie des "nationalen Interesses" betrachtet er als öffentlichkeitswirksame Rhetorik, die vorschnell ein Einvernehmen zwischen Handel und Politik suggeriere, das er angesichts stark divergierender Handlungslogiken für nicht erwiesen hält. Im Krisenfall differierten Entscheidungsprozesse in Wirtschaft und Politik sehr. In der Theorie liefen Diplomatie und Handel Hand in Hand und waren aufeinander angewiesen, in Krisenzeiten folgten sie allerdings ganz unterschiedlichen Regeln und Verbindlichkeiten, die sich nicht in der harmonisierenden Logik des Kapitalismus auflösen ließen. Über die Definition von "nationalem Interesse" bestand in der imperialen Politik keine Einigkeit, sondern war Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Dementsprechend will der Autor die Prozess- und Projekthaftigkeit des Unternehmens "Empire", mithin auch das Unfertige, Reaktive und Ambivalente betont wissen (wobei hier zu fragen wäre, inwieweit dies in einer geostrategischen Sprache gelingen kann).
Im ersten Teil arbeitet Darwin zunächst die viktorianischen Wurzeln des Empire zwischen 1830 und 1870 heraus, die er in der Beweglichkeit des Handels sieht, dessen Kommunikationswege durch aktive Diplomatie gesichert und durch das Migrations- und Missionswesen befördert wurde (Kap. 1). Das viktorianische Muster der Expansion war kaum gefestigt, als es sich in der Ära der "frühen Globalisierung" ab 1870 bereits mit der rapiden Auflösung ökonomischer und kultureller Barrieren zwischen Europa und dem Rest der Welt konfrontiert sah. Zuvor getrennte Sphären Europas und Asiens fanden sich nun in einem einzigen System von Weltpolitik mit globaler Ökonomie verbunden. Hier schien bereits das Dilemma imperialer Strategien im 20. Jahrhundert auf: Wie nämlich sollten die britischen Interessen gleichzeitig in Europa, dem Nahen Osten und Ostasien gesichert werden (Kap. 2)? Mit der Erschließung des Hinterlandes war eine Mobilisierung immer größerer Finanzmittel zwischen Regionen, Sektoren und Firmen zu bewältigen, was der Handelsrepublik mit Hilfe des Drehkreuzes London gelang (Kap. 3). Für den Zugang zu den Arcana imperii im Osmanischen Reich, Ägypten und China blieb London auf eine aktive Diplomatie angewiesen. Mit der Aufweichung der Empire-Grenzen wurde die Integration der Kolonien für das Gelingen des "Britannic experiment" (Kap. 4) immer wichtiger: Am verlässlichsten war die Bindung der weißen Siedlerkolonien an das Mutterland - ein Zusammenhalt, den Darwin als "Britannic nationalism" bezeichnet, in dem sich Imperialismus und Isolationismus, der Drang nach Expansion und das Bedürfnis nach Kohäsion, mithin In- und Exklusion überlagerten. Australien und Neuseeland verstanden sich als Treuhänder britischer Interessen im Südpazifik und betrachteten das Empire als Vehikel und Garant lokaler Sicherheit und nationaler Ambitionen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahmen europäische (und amerikanische) Rivalitäten in Ostasien und dem Pazifik zu, so dass Indiens Platz im Empire als Zentrum imperialer Verteidigung und Hauptproduzent von Ausfuhrwaren gerade nach der "Mutiny" mit unveränderter Intensität debattiert wurde (Kap. 5). Am problematischsten stellte sich die Integration Südafrikas in das Empire dar, in der weder die Lösung einer Siedlerverwaltung noch die indische Lösung direkter Kontrolle gangbar war (Kap. 6).
In der Phase der "Edwardian transition" ging es nicht um die Frage eines relativen Niedergangs des Empire gemessen an einem von der Forschung gern angelegten "imaginären" viktorianischen Maßstab, so der Autor, sondern um die Frage, ob das Empire in der Lage sein würde, sein System durch einen Strategiewechsel gegen rivalisierende Mächte zu behaupten. Angesichts der Präsenz der französischen Flotte im Mittelmeer, der sich abzeichnenden Konflikte europäischer Mächte nach dem Boxer-Aufstand und der neuen Stärke der USA und Russlands musste sich die Erkenntnis durchsetzen, dass ein Rückzug in "blue water isolation" unmöglich war. Rivalitäten in der Ferne wirkten auf das Gleichgewicht der Mächte in Europa zurück. Für Marine und Diplomatie wurde damit die Unterscheidung zwischen innenpolitischen und imperialen Interessen hinfällig, die sich nun vielmehr als Probleme imperialer Sicherheit darstellten. Diese Sicherheit verlangte eine Politik der Kohäsion, die in den Dependencies zunehmend zum Einsatz von Zwangsmethoden und steigenden Militärausgaben führte, in den Dominions hingegen zu einem ostentativen "Britannic nationalism", der Loyalität an die Teilhabe imperialer Politikgestaltung knüpfte.
Der zweite Teil des Bandes behandelt dann das britische Weltsystem im Zeitalter der Weltkriege, des Ägyptenkriegs und des Kalten Kriegs. Darwin zeigt hier zunächst den immens hohen Einsatz der Kolonien für das Mutterland auf (Kap. 8) und zeichnet das spannungsreiche Feld der Beziehungen zu den USA nach. In der Geopolitik der Neuen Welt zur Sicherung der Finanzkraft kollidierten bereits die Vierzehn Punkte mit ihrer Forderung nach der Freiheit der Meere mit dem britischen Insistieren auf Blockaderecht. Die Ambivalenzen nahmen zu: Kolonialismuskritik kam aus den Reihen von "imperial dissenters" wie Hobson und Angell, während zugleich eine imperiale Labour-Politik entstehen sollte (Kap. 9). Mit der Wirtschaftskrise von 1929 wurde dann die Krise des Kapitalismus zur Krise des Liberalismus. Das Empire sollte zwar auch den Zweiten Weltkrieg überleben, musste allerdings von zwei geostrategischen Annahmen abrücken. Der zentrale Platz Großbritanniens im strategischen Gleichgewicht Europas gehörte ebenso der Vergangenheit an wie die relative Passivität Asiens. Mit der französischen Niederlage fand die Vorstellung vom "British exceptionalism" durch den für das Empire fundamentalen Schock eines Angriffs auf die Metropole ein Ende. Eine schnelle, kumulative und irreversible Transformation der Vorkriegsstrukturen britischer Weltmacht setzte ein. Für die Gestalt und den Abgesang des Empire hält Darwin die scheiternde britische Nahost-Politik in Ägypten in den 1950er und 60er Jahren für wesentlich. Gerade seine Ausführungen zu Varianten des Abzugs ohne Gesichtsverlust und zur Transformation von "Einflusssphären" in dieser gut lesbaren Synthese vom Umbau eines Weltsystems entbehrt nicht des tagespolitischen Interesses.
Darwin gelingt es im Laufe der Darstellung tatsächlich, das Verhältnis von Zentrum und Peripherie umzukehren und nachzuweisen, wie sehr der Status des Zentrums von den Entwicklungen der Peripherie abhängig war. Er zeigt, dass die Kolonien weit mehr waren als nur Schauplätze innereuropäischer Rivalitäten. Das Leitbild des innereuropäischen Equilibriums stellte mit dem Ersten Weltkrieg nur noch eine von mehreren denkbaren Mächtekonstellationen dar. Europa war nicht mehr als eine Provinz neben anderen, wenngleich eine, deren Handeln globale Konsequenzen zeigte.
Verena Steller