Werner Freitag / Christian Helbich (Hgg.): Bekenntnis, soziale Ordnung und rituelle Praxis. Neue Forschungen zu Reformation und Konfessionalisierung in Westfalen (= Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte; Bd. 4), Münster: Aschendorff 2009, 318 S., ISBN 978-3-402-15043-6, EUR 44,00
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Seine landesherrschaftliche Zersplitterung macht Westfalen aus Sicht der Konfessionalisierungsforschung zu einem besonders lohnenden Forschungsobjekt. Das hierdurch verursachte konfessionelle Nebeneinander auf kleinem Raum bedingte unterschiedliche Wege der Bekenntnisbildung und macht die Geschichtslandschaft Westfalen, wie es die Herausgeber dieses Sammelbandes in ihrem Vorwort so schön ausdrücken, zu einer Art "Laboratorium für die Anwendung einer Vielzahl von Ansätzen" zur Erforschung von Reformation und Konfessionalisierung. Es ist somit nicht verwunderlich, dass es für die meisten der in diesem Band vereinigten dreizehn Einzelstudien durchgehend junger Nachwuchswissenschaftler bereits bedeutende Vorarbeiten gibt. Die Autoren nutzen die Forschungen von Alois Schröer, Heinz Schilling, Andreas Holzem und nicht zuletzt von Mitherausgeber Werner Freitag zur konfessionell geprägten Landschaft Westfalen als Bezugsrahmen: Hier sind zum einen wichtige Fährten für die weitere Beschäftigung mit dem Thema gelegt - insbesondere in methodischer Hinsicht -, zum anderen wurden Leerfelder und Vertiefungsmöglichkeiten benannt, deren Bearbeitung auf Mikroebene den Blick auf das große Ganze ergänzen und korrigieren hilft. Der Zusammenhang von religiöser Praxis und sozialer Ordnung bestimmt den Fokus des vorliegenden Bandes, der zwei Anliegen verfolgt: erstens, sozial- und religionsgeschichtliche Erkenntnisse stärker zu verbinden und zweitens, Anregungen für eine stärkere Beachtung von Akten symbolischer Kommunikation im Kontext der Konfessionalisierung zu geben (Vorwort, 8).
Das erste Vorhaben wird insbesondere von zwei Beiträgen innovativ aufgenommen und umgesetzt: Sabine Kötting beschäftigt sich mit dem Beruf des Küsters im frühneuzeitlichen Fürstbistum Münster. Vor allem in Dorfkirchen wurde dieses Amt zumeist von Laien bekleidet, wodurch sich eine gewisse Mittlerfunktion zwischen Gemeinde und Pfarrer entwickelte. In ihrem Dissertationsprojekt untersucht Kötting Spannungen und Veränderungen, die sich für das Amt zwischen Trienter Konzil und den Entwicklungen der Katholischen Aufklärung ergaben. Die in ihrem Beitrag vorgenommene Analyse entsprechender Visitationsprotokolle beschreibt das von seiten der kirchlichen Hierarchie formulierte Anforderungsprofil für die Küsterstelle; zugleich macht Sabine Kötting zahlreiche sozialgeschichtlich interessante Beobachtungen, etwa zu Einkommen, sozialer Stellung und familiären Verhältnissen der Küster. Der für das Gesamtprojekt angekündigte erweiterte Quellenzugriff auf Gemeindeüberlieferung, Sendgerichtsakten etc. wird diese interessante und vielversprechende Forschung weiter bereichern. Mit einer ebenfalls bislang im Rahmen der Konfessionalisierungsforschung vernachlässigten Gruppe beschäftigt sich der Beitrag von Bastian Gillner. Er blickt auf die Rolle des westfälischen Adels im Prozess der
Konfessionalisierung. Im Spannungsfeld von landesherrlicher und kirchlicher Obrigkeit und der Abwägung eigener Karrierechancen erwies sich die konfessionelle Autonomie als ein bedeutendes Instrument zur politischen Positionierung. Das Zusammenspiel familiärer, politischer und religiöser Interessen wird von Gillner eindrucksvoll analysiert. Sein Vorhaben dürfte der weiteren Beschäftigung mit dem Adel als Akteur im Konfessionalisierungsprozess - auch außerhalb Westfalens - einen nachhaltigen Anstoß geben.
Die Nutzung symbolischer Kommunikation untersucht Jan Brademann am Beispiel von Prozessionen in der münsterländischen Landpfarrei Ascheberg. In seiner kulturgeschichtlich orientierten und methodisch vorbildlich fundierten Herangehensweise begreift er das Phänomen Prozession als Ritual, in welchem symbolisch-performativ Gemeinschaft generiert wird. Seine anregenden Ausführungen schließt Brademann mit der folgerichtigen Frage: "War Konfessionalisierung dort umso erfolgreicher, wo ihre Geltungsbehauptungen vor allem in Ritualen unhinterfragbar gemacht wurden?" (298). Aus theologischer Sicht möchte man dieser Frage hinzusetzen: Rituelle Tradition erlebt jenseits konfessioneller Identitäts- und Abgrenzungsprozesse bis heute eine große Akzeptanz von Seiten religiös Suchender. War die hohe Attraktivität solcher Praxis in konfessioneller Sicht allein Mittel zur Abgrenzung und Herstellung konfessionalisierter Ordnung? Oder aber steckte jenseits gängiger Polemiken, wie man sie beispielsweise in den Reiseberichten Friedrich Nicolais findet, vielleicht auch ein "ökumenisches Potential" in ihr? Wallfahrtsorte in konfessionellem Mischgebiet besaßen doch vermutlich nicht nur Bedeutsamkeit für die konfessionelle, sondern auch für die lokale Identität der Menschen und waren nicht zuletzt auch ökonomisch attraktiv, von ihrer eigentlichen religiösen Funktion ganz zu schweigen.
Besonders zu erwähnen sind noch die beiden Aufsätze von Michael Hecht und Philipp Dotchev. Hecht beschäftigt sich mit einer Fragestellung, die sowohl dem Feld der symbolischen Kommunikation als auch dem Themenkomplex sozialer Ordnung und konfessioneller Identität zugeordnet werden kann. Am Beispiel der Stadt Werl untersucht er die Nutzung von Prozessionen zum öffentlichen Austragen von Rangkonflikten im 17. und 18. Jahrhundert. Er stellt fest, dass Prozessionen auch der Inszenierung städtisch-ständischer Hierarchie dienten und sie somit - wie er eindrücklich belegt - bisweilen zum "Kampfplatz" der städtischen Eliten wurde. Hierin sieht er eine weitere Erklärung für die kritische Einstellung des aufgeklärten Katholizismus gegenüber dem Prozessionswesen allgemein. Ebenfalls äußerst lesenswert und originell ist die Beschäftigung Philipp Dotchevs mit der Koexistenz der Konfessionen in der Gemeinde Goldstedt, die für Jahrhunderte zwischen dem Fürstbistum Münster, dem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg bzw. dem Kurfürstentum Hannover umstritten war. Am Beispiel des multifunktionalen Ortes Kirchhof, gelegen in einem de facto als Simultaneum zu bezeichnenden Kirchspiel, belegt Dotchev, dass hier das Konfessionalisierungsparadigma anhand einer Ausnahme wiederum untermauert werden kann. Die in Goldstedt zu beobachtenden "Mischliturgien" lutherischer und katholischer Art im Begräbniswesen sind zwar mehr das Resultat äußerer Umstände als "frühökumenische" Aufbrüche, dennoch zeigt sich in ihnen jenseits kirchlich-hierarchischer und theologischer Kontroversen ein pragmatischer Weg zu konfessionellem Miteinander, der jedoch aus landesherrschaftlicher Perspektive nicht gewollt war.
Mit seinen zum Teil äußerst originellen und methodisch ausgereiften Beiträgen bildet der Sammelband einen wertvollen Baustein im Rahmen der Bemühungen, die Konfessionalisierungsthese für sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen fruchtbar zu machen - auch außerhalb Westfalens.
Christoph Nebgen