Gertrude Enderle-Burcel / Piotr Franaszek / Dieter Stiefel u.a. (eds.): Gaps in the Iron Curtain. Economic relations between neutral and socialist countries in Cold War Europe, Kraków: WUJ 2009, XVI + 293 S., ISBN 978-83-233-2532-1, PLN 39,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Das Buch ist das Ergebnis einer Sektion auf dem Kongress der International Economic History Association in Helsinki und enthält neben der Einleitung 16 Beiträge. Es kann als Beleg dafür dienen, dass Sammelbände sich immer dann als optimales Format erweisen, wenn es darum geht, sich einem von der Forschung eher vernachlässigten Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern. Die ersten fünf Beiträge betrachten die Wirtschaftsbeziehungen mit den Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) jeweils aus der Sicht eines neutralen Staates (Oliver Rathkolb über Österreich, Christina Lohm und Bruno Fritzsche über die Schweiz, Till Geiger über Irland, Gerard Aalders über Schweden und Pekka Sutela über Finnland). Weitere vier Aufsätze beschäftigen sich mit den Beziehungen Österreichs zu seinen östlichen Nachbarn. Hier konzentriert sich Andreas Resch auf die quantitative Entwicklung des österreichischen Handels mit den sieben wichtigsten RGW-Ländern und dessen Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum auf beiden Seiten. Andrea Komlosy ordnet die Beziehungen in den weltpolitischen Kontext und die weltwirtschaftlichen Entwicklungstrends ein. Gertrude Enderle-Burcel beschäftigt sich mit der Bedeutung der Firmen der Kommunistischen Partei Österreichs für den österreichischen Osthandel und Ágnes Pogány mit den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Österreich und Ungarn. Dieser Beitrag leitet zum dritten Teil über, der Aufsätze aus der Perspektive der sozialistischen Staaten umfasst. Hier schreiben Bohumír Brom und Eduard Kubů über den Handel der Tschechoslowakei mit der Schweiz und Schweden in der Hochzeit des Kalten Krieges von 1949 bis 1953, Christoph Boyer über den bilateralen Handel und die Kooperation von Firmen aus der DDR und Österreich bis 1973, Piotr Franaszek über die - insgesamt nicht so außergewöhnlichen - wirtschaftlichen Beziehungen Polens zu den neutralen Ländern sowie Žarko Lazarević über wirtschaftliche Aspekte der Stellung Jugoslawiens zwischen West und Ost. Im vierten und letzten Teil wird die Makroperspektive verlassen, um am Beispiel einzelner Branchen bzw. Unternehmen die Bedeutung der Beziehungen zu den neutralen Staaten für die sozialistischen Volkswirtschaften zu verdeutlichen. Ŀudovit Hallon und Miroslav Londák beschäftigen sich hier mit Investitionen westlicher Unternehmen in der Slowakei in den siebziger und achtziger Jahren. Valentina Fava untersucht den Export der Škoda-Werke in neutrale Staaten und stellt unter anderem fest, dass Finnland von 1953 bis 1961 der wichtigste Exportmarkt für die dort hergestellten Pkw war und erst danach von der DDR abgelöst wurde. Dagmara Jajeśniak-Quast macht deutlich, dass in der DDR, in Polen und in der Tschechoslowakei auch die Eisen- und Stahlindustrie - immerhin das Symbol der "sozialistischen Industrialisierung" - nicht ohne österreichische Technologien und schwedische Erze auskam.
Trotz der vielfältigen Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen. Erstens betonen beinahe alle Autoren, dass der Eiserne Vorhang durchlässiger war als dies zumeist angenommen wird. Den mittel- und nordeuropäischen neutralen Staaten, nicht aber Irland, kam dabei - vor allem während des Kalten Krieges der fünfziger Jahre und zu Beginn der Entspannungspolitik in den sechziger Jahren - eine entscheidende Bedeutung zu. Sie lieferten häufig dringend benötigte Güter, die im Ostblock nicht oder nicht in ausreichender Qualität vorhanden waren und die in anderen westlichen Ländern aufgrund der Embargo-Politik der USA und der NATO-Staaten nicht - zumindest nicht offiziell und nicht direkt - erworben werden konnten. Sie waren außerdem oft Vorreiter bei der Entwicklung von Formen der Zusammenarbeit im Außenhandel, in der Gründung von joint ventures oder in der Kooperation auf Drittmärkten. So nutzten gerade Finnland und Österreich das von den Zentralverwaltungswirtschaften, die chronisch unter Devisenknappheit litten, bevorzugte Clearing-Verfahren zu ihrem eigenen Vorteil. Dennoch - und dies thematisieren die Beiträge in sehr unterschiedlichem Ausmaß - blieb der Ost-West-Handel weit unter den angesichts der historischen Verbindungen, der Komplementarität der Wirtschaftsstrukturen und der geographischen Nähe vorhandenen Potenzialen. Im Zweifel unterwarfen sich die neutralen Staaten zumeist doch der Embargo-Politik und räumten generell den Beziehungen nach Nordamerika und Westeuropa sowohl aufgrund politischer Rücksichten als auch im Interesse ihrer Volkswirtschaften Priorität ein. Außerdem - und darauf weisen insbesondere Pogány und Boyer hin - behinderte das inflexible planwirtschaftliche System eine Ausweitung des Außenhandels sowie eine effizientere Arbeitsteilung.
Zweitens gibt es in allen Beiträgen eine weitgehende Übereinstimmung in der Periodisierung, die den Zäsurcharakter der frühen siebziger Jahre betont. Die Bedeutung des weltweiten Übergangs von der fordistischen Massenproduktion zu wissensbasierten Industrien, des Endes der (in West und Ost relativ ähnlichen?) Rekonstruktionsperiode, der stärkeren Ausprägung von Wirtschaftskrisen und des Aufstiegs multinationaler Unternehmen wird von den einzelnen Autoren unterschiedlich akzentuiert. Es herrscht aber Konsens darüber, dass die sozialistischen Länder zu diesem Zeitpunkt ihre Außenhandelspolitik grundlegend änderten, indem sie versuchten, durch den Import von Technologien eigenes Wachstum zu generieren und ihre Wirtschaft zu modernisieren. Das erste Ziel wurde nur vorübergehend erreicht, das zweite klar verfehlt. Mehr noch: die damit verbundene Anpassung an den international üblichen Devisenverkehr, die negativen Handels- und Zahlungsbilanzen sowie die wachsende Verschuldung führten einige Länder wie Polen direkt in eine Wirtschaftskrise und haben generell mehr zum Zusammenbruch des Sozialismus beigetragen als die Wiederbelebung der Embargo-Politik im "zweiten Kalten Krieg" der Reagan-Ära. Die neutralen Staaten verloren ab 1970 Teile ihrer Sonderstellung im West-Ost-Handel, verfügten aber nach 1990 immer noch über Startvorteile bei der Erschließung östlicher Märkte und Niedriglohnstandorte.
Zu kritisieren sind allein vereinzelte Mängel bei der Präsentation (150, Table 9.4) und Interpretation der statistischen Daten. Spricht beispielsweise eine Steigerung des Außenhandels zwischen der Tschechoslowakei und den vier neutralen Staaten von 1953 bis 1988 um mehr als das Zwanzigfache tatsächlich für sich selbst (246) oder sollte man hier nicht Sondereffekte und Preissteigerungen berücksichtigen sowie vor allem Relationen zu anderen Entwicklungstrends herstellen? Insgesamt aber stellt der Band eine Bestandsaufnahme jüngerer Forschungsergebnisse dar, die alle wichtigen Aspekte des Themas berücksichtigt, ohne freilich auf alle Spezialfälle, wie etwa Rumänien, eingehen zu können. Positiv ist auch, dass "Wirtschaftsbeziehungen" nicht auf den Außenhandel oder auf die nationalstaatliche Ebene reduziert werden. Das Buch wird daher sicherlich weitere Forschungen anregen.
Uwe Müller