Burkhard Kunkel: Werk und Prozess. Die bildkünstlerische Ausstattung der Stralsunder Kirchen - eine Werkgeschichte, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2008, 413 S., ISBN 978-3-7861-2588-4, EUR 69,00
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Der den Untertitel bestimmende Terminus "bildkünstlerische Ausstattung" weckt im Hinblick auf Umfang und Zielsetzung der vorliegenden Studie falsche Erwartungen, denn wichtige Bereiche mittelalterlicher Ausstattungskunst werden darin ausgespart: der Bestand an Wand- und Gewölbemalereien etwa, jüngst durch Freilegungen in St. Marien erheblich vermehrt, und zahlreiche Skulpturen in St. Nikolai wie der Reliefzyklus an den Querbalken der Chorschranken, das bekannte Relief vom Gestühl der Rigafahrer oder das Triumphkreuz. Tatsächlich handelt der Band von Altarwerken, die in den Kirchen und Sammlungen Stralsunds in großer Zahl erhalten sind, und er diskutiert diese nicht unter künstlerischen Aspekten, sondern in einem Ansatz, der den Bogen von restauratorischen Fragestellungen hin zu Bildgebrauch und Frömmigkeitsgeschichte spannt und sich aus einer Doppelqualifikation des Autors speist. Als Restaurator am Kulturhistorischen Museum in Stralsund zählt Burkhard Kunkel 22 der in den Katalog aufgenommenen Werke zu seinem professionellen Zuständigkeitsbereich. Der Kunsthistoriker Kunkel hingegen wollte in seiner Greifswalder Dissertation einen Überblick über die reiche "bildkünstlerische Kirchenausstattung der Altäre Stralsunder Pfarrkirchen" um 1500 gewinnen, eine Aufgabe, welche nicht nur durch alterungsbedingte Schäden, bilderfeindliche Zerstörungen und andere Verluste, sondern auch durch legendenhafte Auffassungen, wie die von den bis zu 207 ehemaligen Altarwerken, erschwert wird.
Der Autor will jenseits von Stilkritik und Ikonografie "geschichtlich-technologische Ansätze" für die "rekonstruktive Darstellung von Kirchenausstattungen einer bestimmten Region" erproben und so aus den Objekten den "Realgehalt einer Geschichtsquelle" schöpfen (17f). Entstehung und Untergang, Gebrauchsspuren, Beschädigungen und Umarbeitungen seien gleichermaßen als Spuren von Geschichte zu lesen. In den Veränderungen dokumentiere sich der Werkprozess, der stets ins Verhältnis zu einschlägigen Schriftquellen zu setzen sei, damit sich in der Gesamtschau der Umgang mit den Werken in ihrem wandelbaren historischen Kontext zeige: "Erst die Werkspurenkritik und die schriftliche Überlieferung gemeinsam bilden den Grundstoff, auf dessen Basis [...] Werkgeschichte geschrieben werden kann" (24).
Es geht Kunkel um nicht weniger als um die Begründung eines neuen methodischen Ansatzes, der in Einführung (25-54) und Gliederung der Studie klar und systematisch entwickelt wird. In dem Überblick zur Quellensituation zeigt sich rasch, dass das überaus breite Spektrum (Testamente, Urkunden, Visitationsanweisungen, Rechnungsbücher und anderes) nur exemplarisch auf seine Aussagekraft hin befragt werden kann, wobei die Betrachtung bis zum Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert hin geführt wird. Die Herkunft von Begriff und Methode einer Werkgeschichte werden kompakt dargestellt, die nicht immer unproblematische Kooperation von Kunsttechnologie und Kunstgeschichte reflektiert. Wesentlich erscheint die Klarstellung, inwiefern der Ansatz über die Bestandsaufnahmen der Konservatoren hinausgeht: "Ein Betrachtungssystem, das Merkmale am Werk in ihrer Kausalität und Prozesshaftigkeit ordnet, damit sie argumentativ verwertbar werden und auf historische Zusammenhänge verweisen" (46).
Kapitel 2 führt unter dem Oberbegriff 'Werk' anhand von vier Fallstudien - Exponate des Kulturhistorischen Museums, darunter die Madonna von 1485 und der Torso eines Kruzifixus - ein in die technisch-geschichtliche Anamnese und präsentiert ein Auswertungsmodell der "Werkgeschichte und Werkspurenkritik" (Schema auf 89). Es ist entstanden aus einer Synthese artverwandter Systeme von Johannes Taubert (naturwissenschaftliche Gemäldeuntersuchungen) und Jan von Bonsdorff (Zeitschichtenmodell), aber in Abgrenzung von Patricia Langen (Werkgeschichte Kölner Holzskulpturen). Werkgenese und Zeit verschiedener produktiver wie reduktiver Nutzungen sind in dem Modell jeweils differenziert, die Übergangsphase von Handel und Transport, gerade im Ostseebereich ein interessantes Kapitel, sowie von Lagerung und Montage erscheint hingegen summarisch zusammengefasst.
In Kapitel 3 konkretisieren sich unter dem Oberbegriff 'Prozess' die Kriterien des Auswertungsmodells am überlieferten Bestand. Was Kunkel hier sowohl mit detektivischem Spürsinn am Detail als auch mit übergreifendem Blick auf die historischen Zusammenhänge darstellt an Wechselfällen in der bildkünstlerischen Ausstattung der Kirchen - unter Stichworten wie Bildgebrauch, Kirchenbrechen, Translokation, ästhetisch-katechetische Umgestaltung und Kirchensäuberung -, das liest sich wie eine Stralsunder Kulturgeschichte des Umgangs mit Altarkunst über sechs Jahrhunderte hinweg. Zugleich löst er den Anspruch ein, in der Synopse von technologischen Befunden und historischen Nachrichten Werkgeschichte in ihrer "historisch-kulturell bedingten Regelhaftigkeit" zu schreiben. Die einzelnen Ergebnisse können hier nicht diskutiert werden, doch wären die hypothetisch vertretene Zweckbestimmung des Franziskus-Retabels aus Sanzkow (150-155) oder die Diskussion der offenen Fragen um den Jungeschen Marienschrein (116-123) für sich allein bereits lesenswert.
Auf dieser Grundlage folgt dann in Kapitel IV - "Werkspurenkritik und Quellenvergleich" - die Bestandsaufnahme Stralsunder Kirchenausstattungen im Sinne von Inventarisation und Rekonstruktion. Die sorgfältig abwägende und die Kriterien der Beurteilung immer offen legende Darstellung kann zeigen, dass für St. Nikolai nicht nur fünf Altarwerke (N. Zaske) fassbar, sondern Überreste von 13 Retabeln in verschiedener Fragmentierung erhalten sind. Für Stralsund insgesamt kann Kunkel 35 noch fassbare Altarwerke namhaft machen. Für das intuitive Begreifen hilfreich ist die grafische Zusammenschau der den einzelnen Kirchen jeweils zuzurechnenden Stücke (300-305). Grundsätzlich wichtig über den Fall von Stralsund hinaus sind unter anderem drei Ergebnisse: Der Anteil von Kirchenbrechen und Bildersturm an den Verlusten muss geringer eingeschätzt werden als in landläufigen Vorstellungen; Translokation und Zerstörung ziehen sich bis in das 19. und 20. Jahrhundert hinein. Ferner ist das sehr unterschiedliche Ausmaß an erhaltenen Werken auf die unterschiedlichen Geschicke der jeweiligen Kirchen zurückzuführen, eine generalisierende Aussage für ganze Städte ist demnach problematisch. Kritisiert wird zudem der mechanische Schluss vom Urkundenbeleg einer Altarstelle auf einen aufwendigen Altaraufsatz.
Der Katalog der Bildwerke (317-386) bleibt mit seinen Kurzbeschreibungen und Einordnungen relativ knapp und ist jeweils durch die angegebenen Passagen in der Darstellung zu ergänzen. 159 Abbildungen und 8 Farbtafeln begleiten die Lektüre adäquat.
Insgesamt erbringt Kunkels 'Werkgeschichte' vor dem Hintergrund historisch fassbarer Vorgänge tatsächlich eine sehr viel genauere Vorstellung vom Bestand und von den Geschicken bildkünstlerischer Altarausstattungen in Stralsund. Sein methodischer Ansatz und seine Ergebnisse sollten ein wirksamer Anstoß sein, die Vielzahl weitreichender technologischer Befunde, die unpubliziert in den Schränken der Denkmalpflege und der Museen lagern, intensiver zu bearbeiten und so der Kunstgeschichte bisher nicht ausgeschöpfte Erkenntnismöglichkeiten zu erschließen.
Für die angekündigte Definition "einer technologisch aufgefassten Werkgeschichte" (315) ergeben sich noch Fragen, wenn in dem Schema zur Werkgeschichte künstlerische Maßnahmen gleichwertig neben dem Nagen der Schadkäfer stehen. Kunkel erwähnt zwar genuin bildkünstlerische Kriterien nicht nur im Titel, wenn er "vom Reichtum an mittelalterlicher bildender Kunst" oder von der Frage nach der "Qualität" spricht (11, 16), enthält sich aber sehr konsequent eigener Aussagen zur bildkünstlerischen Gestaltung der Skulpturen, zu Kriterien wie Stil, Formqualität oder gestaltetem Thema. Soweit für seine Darstellung relevant (Datierungsfragen, Zuschreibung), referiert er dazu allenfalls die Positionen anderer Autoren, was für das vorliegende Buch und sein Erkenntnisinteresse ausreichend und angemessen ist. Für eine systematische Einordnung der Werkgeschichte in die theoretische Befassung mit historischen Bildkünsten wäre aber zu klären, ob nicht auch eine gestalterisch vorgetragene Bildaussage oder die spezielle Charakterisierung einer heiligen Gestalt als "Träger geschichtlicher Information" (314) gelten sollten. Dass nicht nur im prozessualen Geschick der Werke, sondern auch in gestalterisch umgesetzten Intentionen und Vorstellungen ihrer Urheber und Auftraggeber die historische Dimension von Kunstwerken zu sehen ist - mit dieser Klärung könnte dem Missverständnis vorgebaut werden, dass Kunkels ertragreiche "Erweiterung der klassischen Bildanalyse" (44) Werkgenese und künstlerische Tätigkeit auf den rein technisch-materiellen Werkprozess reduzieren und damit am Ende doch wieder die Dichotomie zwischen einer Geschichte der Kunst und technologischer Analyse aufrecht erhalten wolle.
Ulrich Fürst