Rezension über:

Manfred Gehrmann: Die Überwindung des "Eisernen Vorhangs". Die Abwanderung aus der DDR in die BRD und nach West-Berlin als innerdeutsches Migranten-Netzwerk, Berlin: Ch. Links Verlag 2009, 650 S., ISBN 978-3-86153-539-3, EUR 49,90
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Rezension von:
Henrik Bispinck
Abteilung Bildung und Forschung, BStU, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Henrik Bispinck: Rezension von: Manfred Gehrmann: Die Überwindung des "Eisernen Vorhangs". Die Abwanderung aus der DDR in die BRD und nach West-Berlin als innerdeutsches Migranten-Netzwerk, Berlin: Ch. Links Verlag 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 [15.01.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/01/17384.html


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Manfred Gehrmann: Die Überwindung des "Eisernen Vorhangs"

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Obwohl inzwischen zahlreiche Veröffentlichungen zum Themenkomplex Flucht und Ausreise aus der DDR vorliegen, fehlt bisher eine Darstellung, die sowohl die Massenflucht der 1950er Jahre als auch die zahlenmäßig geringeren Grenzdurchbrüche und legalen Ausreisen nach dem Mauerbau umfasst. Eine solche Gesamtdarstellung hat nun der Soziologe Manfred Gehrmann vorgelegt, der die Abwanderung aus der DDR als "innerdeutsches Migranten-Netzwerk" untersucht. In diesem Untertitel deutet sich schon die Stoßrichtung seiner Studie an: Gehrmann wendet sich gegen die etwa von dem Soziologen Hiddo M. Jolles und dem Ökonomen Albert O. Hirschman vertretenen Thesen, wonach die Abwanderung aus der DDR überwiegend individualisiert vonstatten ging und es sowohl im Herkunfts- als auch im Zielland nur geringe soziale Beziehungen zwischen den Abwanderern gab. Vielmehr sei die Abwanderung aus der DDR - wie viele andere Migrationsbewegungen - als "Kettenwanderung" zu begreifen, da erfolgreiche Fluchten weitere nach sich gezogen und soziale Beziehungen sowohl bei der Vorbereitung als auch bei den Bemühungen um Integration in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle gespielt hätten.

Gehrmann stützt sich in seiner Untersuchung zum einen auf eine gründliche und systematische Auswertung der Forschungsliteratur, wobei er auch Erinnerungsberichte von Ausgereisten und Geflüchteten einbezieht. Zum zweiten nimmt er eine Sekundärauswertung von quantitativen und qualitativen Daten vor, die 1989 und 1990 im Rahmen eines Forschungsprojektes über "Ehemalige DDR-Bürger in der Bundesrepublik" erhoben wurden (insgesamt 937 Fragebögen und etwa 50 ausführliche Interviews). Bei den Interviewten handelt es sich um Personen, die in den 1970er und 1980er Jahren in die Bundesrepublik gekommen sind. Dies führt zu einem Ungleichgewicht in seiner Darstellung, in der die 1950er und 1960er Jahre nur knapp zur Sprache kommen.

Im ersten Hauptkapitel liefert Gehrmann einen Gesamtüberblick über die "Geschichte des Verlassens der DDR", die er in vier Phasen einteilt: Die Flucht und Abwanderung vor dem Mauerbau, Wege aus der DDR zwischen Mauerbau und KSZE-Schlussakte von 1975, die "Abstimmung mit dem Ausreiseantrag" bis zur Ausreisewelle von 1984 sowie eine letzte Phase, die Gehrmann als "Entstehung [...] des Ausreisedilemmas" (196) kennzeichnet. Gehrmann bietet hier eine souveräne und schlüssige Zusammenfassung des Forschungsstandes, die auch Sonderfälle wie den Häftlingsfreikauf und Botschaftsbesetzungen einbezieht und die Perspektive der Flüchtlinge angemessen berücksichtigt.

Den Hauptteil der Studie macht die Auswertung der genannten Fragebögen und Interviews aus. Hinsichtlich der Ursachen wendet sich Gehrmann gegen die angeblich in der Forschung und der öffentlichen Meinung vorherrschende Ansicht, dass ökonomische Motive für die meisten Flüchtlinge und Ausreisenden ausschlaggebend waren. Selbst hält Gehrmann die "Absage an die Vormundschaftlichkeit des Staates" für das häufigste Fluchtmotiv, worunter er unter anderem den "Wunsch nach mehr Spielräumen für Selbstbestimmung in Alltag und Lebensführung" (269) und die Ablehnung von Unfreiheit und Bevormundung versteht. So zutreffend diese Einschätzung ist, so bleibt sie letztlich trivial, da unter diesem weit gefassten Begriff fast alle überhaupt in Frage kommende Motive gefasst werden können.

Die weiteren untersuchten Aspekte wie die "Soziogenese" und Durchsetzung von Ausreiseanträgen, die Integration der Übersiedler in der Bundesrepublik sowie Rückverbindungen von Übersiedlern in die DDR behandelt Gehrmann sowohl quantitativ als auch anhand von Fallbeispielen. Die dabei ausführlich nachgezeichneten Lebenswege von Ausreisewilligen sowie deren jahrelange Bemühungen, den eigenen Ausreisewunsch durchzusetzen bis hin zur - mehr oder weniger - erfolgreichen Integration in der Bundesrepublik, sind zwar durchaus interessant, doch stehen sie überwiegend für sich. Eine analytisch überzeugende Kategorisierung erfolgt nicht, zumal Gehrmann auch in den Kapitelzusammenfassungen stets wieder auf die Einzelfälle zurückkommt.

Im letzten Kapitel widmet sich Gehrmann der vieldiskutierten Frage nach dem "Beitrag des Verlassens der DDR zum Ende der SED-Herrschaft" (529). Ihm geht es primär darum, die Ausreiseantragsteller in ein positiveres Licht zu rücken und ihren Beitrag zum Sturz des SED-Regimes herauszustellen. Dies gelingt ihm insgesamt überzeugend, wobei er mit seiner Argumentation zum Teil offene Türen einrennt.

Gehrmanns These, wonach die DDR-Auswanderung als "Kettenwanderung" zu begreifen ist, für die soziale Netzwerke nützlich waren, überzeugt für die Ausreisebewegung, kleidet aber im Wesentlichen bereits bekannte Phänomene in ein soziologisches Gerüst. Die in diesem Zusammenhang immer wiederkehrenden Bezüge zu anderen Migrationsbewegungen - insbesondere zur Auswanderung in die USA - wirken zum Teil weit hergeholt und die häufigen Ausflüge in soziologische Theorie- und Begriffsdiskussionen sind für Historiker schwer verständlich. Für die Fluchtbewegung bis zum Mauerbau, aber auch für illegale Wege aus DDR nach 1961 - über die Mauer, über Transitstrecken oder über Drittstaaten - greift die Netzwerktheorie hingegen zu kurz. Zwar ist Gehrmann darin zuzustimmen, dass Fluchten häufig weitere Fluchten - sei es von Freunden, Verwandten und Kollegen - nach sich zogen, um soziale Bindungen aufrechtzuerhalten. Auch waren Kontakte zu bereits in Westdeutschland angekommenen Flüchtlingen hilfreich für die berufliche und soziale Eingliederung.

Ein entscheidender Unterschied zwischen Flucht- und Ausreisebewegung aber wird vernachlässigt: Bei der Stellung von Ausreiseanträgen war es, wie Gehrmann überzeugend darlegt, gerade die Schaffung von Öffentlichkeit und die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, die eine Erreichung des Zieles ermöglichte. Eine - stets illegale - Flucht musste hingegen nicht nur vor Behörden und Vorgesetzten, sondern häufig sogar vor Freunden und Verwandten geheim gehalten werden - aus Angst vor Verrat und um andere nicht wegen Mitwisserschaft in Schwierigkeiten zu bringen. Davon zeugen auch zahlreiche in Nachhinein geschriebene Abschiedsbriefe, in denen die Flüchtlinge ihr Bedauern darüber ausdrückten, sich nicht persönlich verabschiedet zu haben. Als Indiz für die Relevanz innerdeutscher Migranten-Netzwerke das "Ausmaß, mit dem diese vom DDR-Grenzregime bekämpft wurden" (599) anzuführen, führt zumindest für die Zeit bis zum Mauerbau in die Irre, da Gehrmann hier der Voreingenommenheit von Staats- und Parteifunktionären aufsitzt, die sich die Republikflucht nur durch "westliche Abwerbung" und "feindliche Beeinflussung" erklären konnten.

Gehrmanns Arbeit kommt das Verdienst zu, die bisher nur recht verstreut vorliegenden Forschungsergebnisse zum Thema Ausreise ausgewertet und zusätzliches Material erschlossen und aufbereitet zu haben. Die entsprechenden Kapitel stellen eine Fundgrube für die künftige Forschung dar und bieten zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite offenbart seine Studie die Grenzen des Versuchs, einen einzelnen Erklärungsansatz - das Migranten-Netzwerk - auf das vielschichtige Phänomen von Flucht und Ausreise aus der DDR anzuwenden. Eine Gesamtdarstellung zu diesem Thema aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, die die unterschiedlichen Phasen gleichrangig berücksichtigt, bleibt daher nach wie vor ein Desiderat.

Henrik Bispinck