Rezension über:

Ulrich Wiegmann: Pädagogik und Staatssicherheit. Schule und Jugend in der Erziehungsideologie des DDR-Geheimdienstes, Berlin: Metropol 2007, 375 S., ISBN 978-3-938690-56-7, EUR 24,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Henrik Bispinck
Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V., Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Henrik Bispinck: Rezension von: Ulrich Wiegmann: Pädagogik und Staatssicherheit. Schule und Jugend in der Erziehungsideologie des DDR-Geheimdienstes, Berlin: Metropol 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/14894.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Ulrich Wiegmann: Pädagogik und Staatssicherheit

Textgröße: A A A

Das Ministerium für Staatssicherheit, das sämtliche Bereiche der DDR-Gesellschaft zu kontrollieren suchte, machte auch vor den Schulen nicht halt. Sind zu diesem Thema bisher vor allem Fallstudien zu finden, hat der Berliner Erziehungswissenschaftler Ulrich Wiegmann nun einen "ersten monografischen Entwurf" für "eine bildungsgeschichtliche Gesamtsicht auf die Vergangenheit des Geheimdienstes" (11) vorgelegt. Dabei beschränkt er sich nicht darauf, den Zugriff des Staatssicherheitsdienstes auf die pädagogischen Institutionen - im Sinne von Überwachung und Kontrolle - darzustellen, sondern analysiert auch dessen pädagogische Methoden und Zielsetzungen. Dass er dabei die Zeit bis zum Mauerbau fast vollständig ausklammert, da die "geheimdienstliche Praxis streng genommen nicht eher als seit den 1960er-Jahren bildungshistoriografisch interessant" (15) sei, vermag indes nicht zu überzeugen, zumal Wiegmann an anderer Stelle zu Recht darauf hinweist, dass "das Interesse des MfS vor allem am Schul- und Hochschulwesen bereits für das Gründungsjahr des Staatssicherheitsdienstes nachweisbar" (149) ist.

Die Untersuchung wertet in bemerkenswerter Breite Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit aus. Dass sich anhand dieser Quellen "nicht alle bildungsgeschichtlichen Fragen hinreichend beantworten" lassen und insbesondere die "Perspektive der [...] betroffenen Subjekte" (11f.) ausgeblendet bleibt, räumt Wiegmann ein. Ihm geht es vorrangig darum, erste inhaltlich-systematische Schneisen zu schlagen, weshalb er in der knappen Einleitung auch auf die Formulierung einer Fragestellung oder einer Forschungshypothese verzichtet. Schmerzlicher vermisst wird eine Erläuterung der Gliederung der Arbeit, die sich mit Kapitelüberschriften wie "Aufgeklärte Jugenderziehung" "Konspirative Pädagogik" und "Materialistische MfS-Pädagogik" nur schwer erschließt.

Im zweiten Kapitel skizziert Wiegmann die Genese der "historisch-materialistischen Erziehungsideologie" in der SBZ und der DDR und setzt sie in Beziehung zur Sicherheitsdoktrin des Staatssicherheitsdienstes, der im Laufe seiner Geschichte "eine von der etablierten Pädagogik abweichende Erziehungstheorie und -praxis" (20) entwickelt habe. Anschließend geht es um die Berichterstattung des Staatssicherheitsdienstes und des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung über die Entwicklung des Verhaltens und der Situation Jugendlicher in der DDR.

Kernstück der Arbeit ist das vierte Kapitel "Konspirative Pädagogik". Hier beschreibt Wiegmann zunächst ausführlich die Methoden der Rekrutierung, der Werbung und Verpflichtung sowie der Erziehung und Ausbildung von jugendlichen IM. Er stützt sich dabei in der Hauptsache auf Abschlussarbeiten der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam. Diese Arbeiten, die ihrerseits auf Erfahrungen der MfS-Mitarbeiter basierten und konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzeigten, ermöglichen einen tiefen Einblick in die Praxis des Staatssicherheitsdienstes.

Deutlich werden dabei auch die spezifischen Probleme bei der Rekrutierung jugendlicher IM: Da diese naturgemäß "nur eine begrenzte Zeit auf dem Gebiet der Jugend eingesetzt" (79) werden konnten, wurde beispielsweise empfohlen, bereits zu 14- bis 15-Jährigen Kontakt aufzunehmen. Andererseits sollten die Kandidaten eine gewisse geistige Reife mitbringen. Dies war nur einer der zahlreichen Zielkonflikte und Paradoxien im Umgang mit jugendlichen IM, die auch den Studenten nicht verborgen blieben. So stellte ein Absolvent in seiner Abschlussarbeit fest, dass die "Forderung, dem MfS gegenüber ehrlich und zuverlässig zu sein", für jugendliche IM in der Praxis bedeutete, dass "sie gegenüber ihrem Umgangskreis unehrlich sein müssen." (146) In jedem Fall hatte das geheimdienstliche Interesse Vorrang vor pädagogischen Erwägungen: "Rechtliche Belange oder eine besondere Rücksicht auf die Verletzbarkeit jugendlicher Seelen" spielten, so Wiegmann, bei der Anwerbung jugendlicher IM "kaum eine Rolle." (106)

So interessant und aufschlussreich diese Einblicke sind, ist deren Lektüre doch ein ermüdendes Unterfangen. Denn Wiegmann paraphrasiert die Arbeiten sehr ausführlich, gibt häufig ganze Kriterienkataloge wörtlich wieder und zitiert auch von den Absolventen angeführte Banalitäten, wie etwa die Empfehlung, bei der Auswahl eines Raums für die Kontaktaufnahme mit IM-Kandidaten auf "Sauberkeit [...], Vermeidung von Lärmbelästigungen und normale Belüftung" (105) zu achten. Hier wäre eine deutliche Kürzung wünschenswert gewesen.

Die Ergebnisse der geheimdienstlichen Überwachung der Jugend und des Schulwesens sind Gegenstand des zweiten Abschnitts. Wiegmann präsentiert sie anhand verschiedener Themenbereiche, darunter das Verhältnis der Jugendlichen zur Kirche und zur FDJ, die Reaktionen auf den 1978 eingeführten obligatorischen Wehrunterricht und "besondere Vorkommnisse" wie Republikfluchten oder "antisozialistische Aktionen". Auf der Grundlage von Lageberichten und Analysen vermitteln diese Passagen einen Eindruck von der Entwicklung der politischen Stimmung an den Schulen und unter den Jugendlichen aus Sicht des DDR-Geheimdienstes bis zum Vorabend der friedlichen Revolution.

Jugendliche IM wurden indes nicht allein zur Informationsgewinnung, sondern auch "operativ" eingesetzt. Das heißt, sie sollten aktiv Einfluss auf bestimmte Personen oder Gruppen nehmen. Im letzten Abschnitt zeigt Wiegmann an zahlreichen konkreten Beispielen eindrücklich die perfiden Methoden der Zersetzung. Die IM säten Misstrauen, schürten Eifersucht, manipulierten Diskussionen und erreichten damit nicht selten ihr Ziel: Das Herausbrechen Einzelner aus missliebigen Freundeskreisen, häufig aber auch die Zerstörung ganzer Gruppen und Netzwerke etwa im Bereich der kirchlichen Jugendarbeit.

Doch auch hier werden die Grenzen sichtbar - etwa bei der geheimdienstlichen "Bearbeitung" der Skinheadszene in den 1980er Jahren: Zwar gelang es dem Staatssicherheitsdienst mithilfe der zahlreichen in die Szene eingeschleusten IM Zusammentreffen zu verhindern, einzelne Personen aus der Szene zu isolieren und einige Gruppen aufzulösen. Das "Anschwellen[] der Skinheadbewegung zu einer Massenerscheinung" (335) ließ sich dadurch aber nicht verhindern.

Auf eine resümierende Schlussbetrachtung verzichtet Wiegmann zugunsten eines sehr knappen Ausblicks, in dem er vor allem Desiderate benennt. Die Offenheit, mit der der Verfasser bekennt, kein "geeignetes Fazit" (352) für sein Thema gefunden zu haben, ist sympathisch, doch wäre eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse hilfreich gewesen, zumal auch Zwischenresümees zu den einzelnen Kapiteln durchweg fehlen. So bleibt es bei der wenig überraschenden allgemeinen Feststellung, dass es dem MfS nicht gelang, "die zur negativen bis feindlichen Bevölkerungsminderheit stigmatisierten Nonkonformen, Andersdenkenden und Oppositionellen in der DDR auf subtile Weise vollkommen zu beherrschen und mittels Erziehung ein- oder zurückzugliedern in die Reihen und Nischen der schweigenden bis angepassten Mehrheit." (353)

Das ist schade, denn Wiegmann hat in einem wichtigen Bereich der Erziehungsgeschichte der DDR Grundlagenforschung betrieben und dabei viel Interessantes zutage gefördert. Dem Leser erschließen sich diese Erkenntnisse aufgrund der eigenwilligen Einleitung und des fehlenden Schlusses, der schwer durchschaubaren Gliederung und der bisweilen sperrigen Sprache leider nur mühsam. Trotzdem wird dieses Buch auf absehbare Zeit Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit diesem Themenkomplex bleiben.

Henrik Bispinck