Christoph Cornelißen (Hg.): Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie. Wolfgang J. Mommsen und seine Generation, Berlin: Akademie Verlag 2010, 364 S., ISBN 978-3-05-004932-8, EUR 49,80
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"Viel Schüler, viel Ehr'", vor allem wenn sie alle auf Lehrstühlen Platz genommen haben, so könnte man zu einer aus einem Symposium hervorgegangenen Festschrift für Wolfgang J. Mommsen sagen; und das Jahre nach seinem Tod. Die starke Prägung, die er erfahren hat - durch das Schicksal des Vaters nach 1945, den Doktorvater und Zunftmeister Theodor Schieder und nicht zuletzt durch den geistigen Übervater Max Weber - hat er an seine Schüler weitergegeben. Er wollte allem und jedem seinen Stempel aufdrücken, ging keinem Konflikt aus dem Weg. Die dadurch ausgelöste Provokation zum Widerspruch, zur Auseinandersetzung fördert intellektuelle Eigenständigkeit: Im Gegensatz zu Max Weber, an dem er sich zeitlebens abarbeitete, hat Mommsen keine Schule hinterlassen, jeder seiner Schüler ist seines Weges gegangen. Das zeigt dieser Sammelband, der es an Kritik und Vorbehalten nicht fehlen lässt, in aller Deutlichkeit. Streckenweise lesen sich die Beiträge wie Befreiungsschläge seiner Schüler, die sich zu Lebzeiten ihres Lehrers seinem wissenschaftlichen Charisma und Machtstreben nicht zu entziehen vermochten.
Insgesamt kann man von einer gelungenen und fortan unverzichtbaren Historiographie der alten Bundesrepublik sprechen, am Beispiel eines ihrer herausragenden Exponenten. So überrascht es nicht, dass die Generation an sich, also nicht nur die so genannte 45- oder auch 29-Generation (1920-1940), der Mommsen zugerechnet wird, als historische Kategorie eine Schlüsselstellung einnimmt, wie der einführende Beitrag des Herausgebers sogleich unterstreicht. Es folgen vier Kapitel, die sich mit dem Forschungsinteresse einer Generation (I), mit Werk- und Rezeptionsanalyen (II), insbesondere mit der Max Weber-Rezeption (III) und schließlich mit dem Blick von außen (IV) beschäftigen. Der erste Beitrag enthält zudem sehr sympathische, auch generationsspezifische Fotos, die den Lebensweg Mommsen ausleuchten.
Christoph Cornelißen sucht der methodischen und theoretischen Selbstreflexion seines Protagonisten beizukommen, denn der Historismus schien sich ja mit dem Ende Preußen-Deutschlands aus der deutschen Historiographie verabschiedet zu haben. Es war der Prozess der intellektuellen Aneignung einer neuen Staatsform, die den Deutschen von den Alliierten zunächst verordnet worden war. Auch wenn für Mommsen vor allem das Kaiserreich, seine Verwerfungen ebenso wie seine geistigen und kulturellen Eliten, im Vordergrund standen, so war doch der Nationalsozialismus, das Ende der Weimarer Demokratie und das Aufkommen einer archaisch-barbarischen Diktatur, der eigentliche Impetus für die je eigene Forschungsrichtung dieser Historikergeneration. Und zwar vor allem auch deshalb, weil die Biographie noch von persönlichen, durchaus zwiespältigen Erinnerungen an diese Zeit überschattet war. Man könnte also auch von "intellectual reconstrution" sprechen; die Besatzungsmächte hatten bald nach 1945 den Begriff "re-education" durch "educational reconstruction" ersetzt. Auch der aufziehende Kalte Krieg trug wesentlich dazu bei, sich im Westen eine neue geistige Heimat zu suchen, was dazu führte, dass begierig alle Theorieangebote und Erklärungsmodelle aufgegriffen wurden. Und obwohl Männer nicht mehr Geschichte machen durften: Kirchenväter der Moderne, wie Karl Marx und Max Weber, durften es immer noch.
Deshalb ist neben der Einleitung als zweiter Einstieg der glänzende Beitrag von Andreas Anter über die Max- Weber- Diskussion und die Begründung der parlamentarischen Demokratie zu empfehlen. Er zeigt nicht zuletzt, wie ein junger, noch gänzlich unbekannter Historiker mit seiner Dissertation über "Max Weber und die deutsche Politik" sogleich die Debattenbühne, heute muss man wohl sagen die Talkshow, der jungen Republik betreten konnte. Denn Max Weber war als Kritiker des Kaiserreichs und demokratischer Verfassungsexperte ebenso angesehen wie kontrovers, letzteres vor allem wegen seines Begriffs der "plebiszitären Führerdemokratie" und seines ambivalenten Verhältnisses zu Carl Schmitt; es schien, als sei damit die kommende Entwicklung historisch plausibel gewesen. Auch Mommsen sah das zunächst so, nur um sich dann ein Leben lang der Ehrenrettung Webers zu verschreiben. Sein Beitrag und der seiner Schüler zur Max Weber-Gesamtausgabe macht einen ganz erheblichen Teil dieses Bandes aus. Der dritte grundlegende Beitrag ist eine "kollektivbiographische Skizze" des Jahrgangs 1943, vorgestellt von Christof Dipper. Hier manifestiert sich, dass diese zeit- und gruppenspezifische Herangehensweise viel aussagekräftiger ist als die der Generationskohorte, die einen Zeitraum von 20 Jahren umfassen kann (1920-1940). Jedenfalls war der Verfasser dieser Zeilen (Jg. 1939) überrascht, dass fast alle Zuschreibungen auch auf ihn zutrafen: schon in der Schulzeit Sensibilisierung für das NS-Thema, Distanz zur 68-Bewegung, Methoden- und Themenpluralismus und Vorbehalte gegen eine zu theoretisch-scholastische Geschichtsbetrachtung (z.B. die Sonderwegsthese).
Harmloser und daher leichter zu vermitteln als Mommsens heuristische, wenn auch nicht dogmatische Theoriebeflissenheit, die stets um den Begriff der politischen Sozialgeschichte kreiste, war sein Interesse am Kaiserreich, und hier vor allem am Ersten Weltkrieg, den er durchaus, wenn auch sehr differenziert mit seinem anderen Interessengebiet, dem europäischen Imperialismus, in Verbindung brachte. Schließlich war der Weltkrieg auch das Terrain, auf dem sich Max Weber politische Geltung verschafft hatte. Gleich drei Schüler Mommsens hat dieses Thema umgetrieben, um dann auch Niederschlag in diesem Band zu finden (Stig Förster, Gerd Krumeich, Gerhard Hirschfeld). Besonders aufschlussreich ist Mommsens Auseinandersetzung mit Fritz Fischer und seiner Schule, auf die Hirschfeld näher eingeht und die erkennen lässt, dass ihm bei aller Wertschätzung der Verantwortungsethik eine moralistische bzw. whigistische Betrachtungsweise fremd war.
Es ist erstaunlich, dass auch zwanzig Jahre nach der Implosion der DDR dieser Staat bei einigen britischen Historiker noch nostalgische Regungen aufkommen lässt, so als sei das nichtkapitalistische "andere Deutschland" im Grunde doch "das bessere" gewesen. Jedenfalls nimmt Mary Fulbrook hier die Gelegenheit war, eine Lanze für die ostdeutsche Historiographie zu brechen; und die Lanze bricht wirklich. Sie bemüht sich redlich um eine gesamtdeutsche Sicht, indem sie die Standortgebundenheit der Historiker auf beiden Seiten betont und die gegensätzlichen Standpunkte relativiert. Schließlich sei es auch mit der behaupteten Wertneutralität und Unparteilichkeit der westdeutschen Historiker nicht weit her gewesen; auf dem hohen Ross war für sie kein Platz. Im Unterschied zu Fulbrook, für die der Name Mommsen nur als Chiffre für die westdeutsche Historiographie dient, steht für Ian Kershaw die von großer Empathie beflügelte Erinnerung an Hans und Wolfgang Mommsen an erster Stelle. Es wird deutlich, dass auch so ganz unenglische Charaktere wie die Zwillingsbrüder im angelsächsischen Ausland durchaus anziehend wirkten, und zwar gerade bedingt durch ihre teutonische intellektuelle Streitlust. In diesem Beitrag wird auch die beachtliche Pionierleistung Wolfgang Mommsens als Direktor des Deutschen Historischen Instituts London angemessen gewürdigt. Das neuerwachte Interesse der jüngeren britischen Historiker verdichtete sich in der "German History Society", der sich das Institut unter Mommsen als Förderer und Tagungsstätte anbot. Kershaw schildert auch sehr anschaulich die hitzige Debatte auf der "berühmt-berüchtigten Cumberland Lodge-Konferenz" über den Führer-Staat, welche die anwesenden deutschen Zeithistoriker in zwei Lager spaltete, die sich noch weitere zehn Jahre bekämpften. Und dies nur, weil der neo-marxistische britische Historiker Tim Mason auf die glorreiche Idee kam, seine deutschen Kollegen in schwarze und weiße Schafe, nämlich Intentionalisten und Funktionalisten, aufzuteilen.
In vieler Hinsicht sagen diese wenigen lesenswerten Seiten über Wolfgang Mommsen mehr aus als die hochgescheiten Beiträge seiner Schüler zur intellektuellen Biographie ihres Lehrers. Aber jeder Leser sollte zum Schluss noch einen flüchtigen Blick auf das 503 Titel umfassende Schriftenverzeichnis Mommsens werfen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was protestantische Arbeitsethik in concreto bedeuten kann.
Lothar Kettenacker