Rezension über:

Christoph Cornelißen: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert (= Schriften des Bundesarchivs; Bd. 58), Düsseldorf: Droste 2001, 757 S., ISBN 978-3-7700-1612-9, EUR 50,10
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Stefan Rebenich: Theodor Mommsen. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2002, 272 S., 21 Abb., ISBN 978-3-406-49295-2, EUR 29,90
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Rezension von:
Stefan Jordan
Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München
Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Jordan: Gerhard Ritter und Theodor Mommsen - zwei Biografien (Rezension), in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 6 [15.06.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/06/3161.html


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Gerhard Ritter und Theodor Mommsen - zwei Biografien

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'Historismus' lässt sich mit Ernst Troeltsch als Denkform charakterisieren, die Wissen, Kultur und Werte radikal verzeitlicht; 'Historismus' kann aber auch im Sinne Friedrich Meineckes, Jörn Rüsens und anderer als Epoche der (deutschen) Historiografiegeschichte verstanden werden. Als solche umfasst sie etwa den Zeitraum vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er-Jahre - Theodor Mommsen (1817-1903) und Gerhard Ritter (1888-1967) könnten nicht nur wegen ihrer Lebenszeit als personifizierter Anfang beziehungsweise personifiziertes Ende dieser Epoche gelten. Sie weisen zudem Merkmale auf, die als typisch für 'Historisten' gelten können: Beide entstammen einem protestantischen Pfarrhaus, beide waren vor ihrer Berufung in dokumentarisch ausgerichteten Akademieprojekten tätig, beide standen für eine deutsch-nationale Gesinnung ein und saßen dafür in deutschen Gefängnissen. Die Unterschiede zwischen Mommsen und Ritter liegen im Detail: Wenngleich protestantisch sozialisiert, wandte sich Mommsen bald von der Religion ab, die wenig direkte Wirkung auf seine altertums- und rechtshistorische Arbeit hatte, Ritter dagegen studierte unter anderem Theologie, engagierte sich zeitlebens für die Evangelische Kirche und veröffentlichte bedeutende Arbeiten über die Spätscholastik und Luther. Für ihn war die Beschäftigung bei der Heidelberger Akademie seit 1919 eher ein Zwischenspiel, wogegen Mommsens "Corpus Inscriptionum Latinarum", ein Projekt der Akademie zu Berlin, zum Lebenswerk wurde. Während Mommsens Eintritt für ein nationales Deutschland - die Verhaftung erfolgte nach Beteiligung an revolutionären Handlungen 1848/49 - als Ausdruck liberaler Fortschrittlichkeit gedeutet werden darf, lässt sich Ritters nationale Haltung als streng konservativ kennzeichnen. Hitler zunächst befürwortend, kam Ritter mit Widerstandskämpfern wie Dietrich Bonhoeffer und Carl Goerdeler zusammen und wurde deswegen Ende 1944 von der Gestapo inhaftiert.

Noch unterschiedlicher als die beiden Historiker sind die hier vorzustellenden Biografien über sie: Cornelißens Habilitationsschrift präsentiert sich als voluminöser Band mit gewaltiger archivalischer und gedruckter Quellen- sowie Literaturbasis, einem Verzeichnis der Schriften Ritters und ausführlichem Personen- und Sachregister; in ihrem Zentrum steht die wissenschaftsgeschichtlich inspirierte Untersuchung der politischen Sozialisation Ritters und ihrer Umsetzung in Leben und Werk. Rebenichs Biografie ist dagegen ein 'Langessay' mit Personen- und Ortsregister; auf Annotationen sowie genaue Quellen- und Literaturnachweise zu Gunsten summarischer Nennung von Hintergrundlektüre zu jedem Kapitel verzichtend, steht sie für den Typus des 'klassischen', am Goethe'schen Bildungsroman orientierten 'Lebensbildes', wie der Autor in einer Nachbemerkung einräumt. Das wirkt sich am Anfang dann etwas nachteilig aus, wenn im biografischen Zugriff ein Zeitbild des frühen 19. Jahrhunderts entworfen werden soll, was dazu führt, dass die Darstellung von Mommsens Jugend - als durch "Sturm und Drang", "protestantisches Leistungsethos" oder "Neuhumanismus" geprägt - klischeehaft wirkt. Dieses Manko entfällt aber bei der Darstellung späterer Zeiten, für die das Leben des Historikers besser dokumentiert ist. Hier 'unterhält und belehrt' der Band im besten Sinne einerseits durch die luzide Sprache des Mannheimer Althistorikers Rebenich und andererseits durch seine Pointierung bestimmter Charakterzüge Mommsens. Denn im Gegensatz zu älteren Biografien, wie denen von Alfred Heuß (1956) und Lothar Wichert (4 Bände, 1959-80), wird dem Leser nicht das Bild des emsigen Wissenschaftlers vorgestellt, der durch Genialität und Fleiß den materialen Grundstock späterer historischer Forschungen vorbereitete und außerdem noch 1902 den Literaturnobelpreis bekam. Vielmehr zeigt sich Mommsen bei Rebenich als Karrierist, der auch vor der Denunziation von Kollegen nicht zurückschreckte - ein krasser Gegensatz zum Bild des Humanisten, das man vom Gegner des treitschkeschen Antisemitismus üblicherweise hat. Im Laufe seines Lebens brachte es der Berliner Historiker auf eine beträchtliche Anzahl an Mitgliedschaften, politischen Mandaten, Stiftungsvorsitzen, Gutachtertätigkeiten und Titeln, die eigenen Projekten ansehnliche Mittel sicherten und darüber hinaus Macht garantierten. Der hervorragende Wissenschaftsorganisator Mommsen mischte mit, wenn es um Stellen für Historiker ging, aber auch zum Beispiel bei der Gründung der Biologischen Station Helgoland, der Beschaffung eines Refraktors für das Astrophysikalische Institut in Potsdam oder dem Erwerb der Bibliotheca Meermaniana für die Königliche Bibliothek in Berlin. Eine notwendige Korrektur im Mommsenbild ist es auch, dass Rebenich das "Römische Staatsrecht" als Hauptwerk betrachtet und auch das "Römische Strafrecht" für bedeutender hält als die belletristischere "Römische Geschichte", die den Nobelpreis brachte.

Cornelißens Untersuchung ist die erste monografische Biografie über Ritter, dessen Werk heute kaum noch rezipiert wird. Gleichwohl zählt der Freiburger Historiker nicht zu den Vergessenen: Als Vertreter einer machtstaatsorientierten Politikgeschichte, als extrem konservativer Protestant, als Ordinarius alter Garde und als Hauptgegner Fritz Fischers in der Kontroverse um die Schuldfrage zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs galt Ritter noch zu Lebzeiten als markantester Vertreter einer antiquierten Geschichtswissenschaft. Dieses stark vereinfachte Bild wurde vor allem von Historikern kolportiert, die sich in den 1960er-Jahren unter dem Zeichen einer 'Historischen Sozialwissenschaft' gegen die etablierten 'Historisten' radikal abgrenzend formierten. Wenngleich Cornelißens differenzierende und neutrale Beobachtungsweise gegen derartige Einseitigkeiten gefeit ist, so untermauert sie doch die großen Züge des negativen Ritterbilds. Einen auf Modernität und Bedeutung für die jetzige Geschichtswissenschaft getrimmten Ritter erhält der Leser nach der Lektüre der Biografie nicht. Obwohl Cornelißen damit auch kaum Überraschungen präsentieren kann, hat sich seine Arbeit gelohnt, denn es gelingt ihm eindrucksvoll, die Stellung Ritters im kommunikativen Geflecht seiner politischen und wissenschaftlichen Bezüge zu zeigen. Waren bisher Gestalten wie Otto Brunner, Werner Conze oder Theodor Schieder als (wie auch immer bewertete) Mitläufer und Mittäter des Nationalsozialismus interessanter, so ergänzt Cornelißen diese Forschungen zur Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus mit der paradigmatischen Schilderung des Lebens eines reaktionären Nationalisten, die zugleich die Biografie einer Prägekraft frühbundesrepublikanischer Wissenschaftskultur ist. Darüber hinaus bietet seine Untersuchung, die ansonsten eher konventionellen Wegen der Biografik folgt, interessante Exkurse: In so genannten "Historikergesprächen" vergleicht Cornelißen Ritters Positionen mit Auffassungen von Historikern anderer weltanschaulicher Ausrichtung. Durch Kontrastierung von Ritters Lutherbiografie mit der von Lucien Febvre, von Ritters Bild vom deutschen Widerstand mit dem Hans Rothfels' oder Ritters Militarismusverständnis mit der Militarismuskritik Ludwig Dehios gelingt es nicht nur, die Ausrichtung der ritterschen Werke stärker zu konturieren, sondern zugleich einen Diskussionshorizont aufzureißen, in dem diese Werke zeithistorisch zu verorten sind. Dieser gelungene methodische Schritt trägt mit dazu bei, dass der Anspruch der Biografie, Wissenschaftsgeschichte zu betreiben, eingelöst werden kann.

Stefan Jordan