Rezension über:

Anja Richter: Inszenierte Bildung. Schulische Festkultur im 19. Jahrhundert (= Pädagogische Studien und Kritiken; Bd. IX), Jena: IKS 2010, 561 S., ISBN 978-3-941854-16-1, EUR 29,90
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Rezension von:
Daniel Oelbauer
Münchener Zentrum für Lehrerbildung, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Oelbauer: Rezension von: Anja Richter: Inszenierte Bildung. Schulische Festkultur im 19. Jahrhundert, Jena: IKS 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5 [15.05.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/05/19265.html


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Anja Richter: Inszenierte Bildung

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Seit den 1970er-Jahren kann man von einem wiederkehrenden Interesse an der Erforschung einer öffentlichen Fest- und Feierkultur und ihrer Geschichte sprechen. Die Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft mit ihrem regelrechten Feierkult wogen zu stark, um sich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren diesem Themenkomplex zu widmen. Allerdings wurde erst vor zwanzig Jahren die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung von Festen und Feiern in der historischen Forschung wieder entdeckt. Gleichzeitig ist eine Hinwendung zu Lebenswelt und Bewältigungsmuster einzelner Akteure und Gruppen bezüglich der sozialen, politischen, kulturellen und weltanschaulichen Neuerungen im 19. Jahrhundert zu beobachten. Dabei blieben allerdings Schulfeiern ausgeklammert. Auch die schul- und bildungshistorische Forschung wandte sich den Themen Feste und Feiern nur ausschnittsweise zu. Die so genannte realistische Wende der Erziehungswissenschaften von einer Geistes- zu einer Sozialwissenschaft und die damit einhergehende Marginalisierung der historischen Bildungsforschung verhinderten dies. Mit der Wiederentdeckung des Kulturbegriffs und dessen Wiedereingliederung in die historische Bildungsforschung wurde versucht, das bildungsgeschichtliche Forschungsfeld zu erweitern, um die entstandenen sozialgeschichtlichen Einseitigkeiten abzubauen. In diesen Zusammenhang gehört die Überwindung der bisherigen bildungsgeschichtlichen Ausrichtung an Preußen zugunsten einer regionalen Bildungsgeschichtsschreibung (15-36).

Ausgehend von diesem detailliert aufbereiteten forschungsgeschichtlichen Hintergrund hat die Autorin in ihrer von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig als Dissertation angenommenen Arbeit eine Geschichte der Schulfeiern am Beispiel Sachsens und zugleich eine Darstellung des höheren Bildungswesens dieser Region vorgelegt. Anhand dreier Gymnasien, der Fürsten- und Landesschule Sankt Afra in Meißen, der Nikolaischule in Leipzig und dem Albertinum in Freiberg, untersucht Richter "Genese und Verlauf ausgewählter Feiern mit ihrem Sitz im Leben" (42) zwischen 1800 und 1918.

Als Quellengrundlage dienen neben Festschriften unter anderem auch Chroniken, Beiträge aus pädagogischen Lexika und Zeitungsberichte. Hauptquelle sind Schulprogramme, die mit ihren Jahresberichten Auskunft über das abgelaufene Schuljahr geben. Diese liegen für den Zeitraum von 1800 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nahezu lückenlos vor. Weitere Gründe, weswegen sich die Autorin auf das höhere Schulwesen Sachsens konzentrierte, sind, dass die Gymnasien eigenständige Festanlässe hervorbrachten und weitaus früher als die Volksschulen für staatliche Interessen instrumentalisiert wurden (37).

Die Schulfeierlichkeiten werden in ihren bildungs- und nationalpolitischen, kulturellen und religiösen sowie den wirtschaftlichen Kontext eingebettet. Hierdurch wird auch die Differenzierung in drei Zeitabschnitte vorgegeben: der Zeit zwischen der Reform des höheren Schulwesens bis zur Einführung des Regulativs (1812-1846), das die drei Gymnasien den übrigen höheren Schulen in Sachsen gleichstelle, dem Zeitabschnitt zwischen Revolution und den Einigungskriegen (1848-1868) und der Zeit des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918). In Abhängigkeit von diesen äußeren Gegebenheiten kann Richter vier verschiedene Feiertypen charakterisieren, mit denen die Gymnasien auf die sich ändernden Rahmenbedingungen reagierten: Repräsentations-, Gesinnungs-, Tugend- und Ereignisfeier.

Die Schulfeiern zwischen 1800 und 1850 standen unter dem Einfluss des im Entstehen begriffenen Geschichtsbewusstseins. Insofern diente die Repräsentationsfeier der Selbstdarstellung, -thematisierung und -rechtfertigung und erlebte nicht nur im schulischen Bereich einen regelrechten Boom.

Ab der Jahrhundertmitte gewann die Gesinnungsfeier an Dominanz. Mit ihrer Hilfe sollten die staatlichen Interessen im Bereich des höheren Schulwesens durchgesetzt werden. Eine besondere Rolle kam dabei den Lehrern zu. Während zu Beginn des Jahrhunderts die Erziehung unter vaterländischen und religiösen Gesichtspunkten erfolgte, gehörte es zu ihrer Aufgabe, auf die richtige politische Gesinnung der Schüler einzuwirken (226f.). Mit den im engen Zusammenhang zur bürgerlichen Festkultur stehenden Tugendfeiern sollten Protagonisten wie "Goethe und Schiller, Luther und Melanchthon [...] sowie die Repräsentanten des politischen Systems den Schülern als Vorbilder dargestellt" (494) werden.

Nach 1871 erfolgte eine Nationalisierung dieser Feiern. Die Anlässe erfuhren eine Erweiterung. Der national- und schulpolitische Kontext dominierte Schulleben und -feiern. Mit Feiern zum Sedantag, zum Geburtstag des Kaisers und für Repräsentanten der Nation wurde die Ereignisfeier, die bislang die Erinnerung an die Reformation als dem herausragenden historischen Ereignis Sachsens kultivierte, neu belebt und zugleich die nationale und monarchistische Orientierung an den Gymnasien gefestigt. Ein daraus erwachsener bürgerlicher Militarismus verdrängte die traditionellen bildungsbürgerlichen Handlungsfelder in Staat, Kirche und Wissenschaft, womit letztlich Kriegsverharmlosung und -begeisterung bei der Jugend geschürt wurden (376ff.). Gerade in diesem Zusammenhang wird der mediale Charakter der Schulfeste besonders evident. Dieser zeigt sich darin, dass Schulfeste dazu beitragen, Enkulturations- und Identifikationsprozesse im Kontext staatlich verantworteter Bildung und Erziehung sowie den damit verbundenen Erwartungen auszulösen und zu verstärken (16).

Insgesamt überzeugt Richters Arbeit durch einen stringenten Aufbau. Ihr gelingt es bislang unerschlossenes Quellenmaterial mit der Sekundärliteratur zu verknüpfen. Auch die Fülle des zu Tage geförderten Materials ist beachtlich. Das Personenregister rundet die Arbeit auf eine sinnvolle Art und Weise ab. Lediglich die Darstellung von Teilergebnissen für die einzelnen Hauptkapitel hätte die Lesbarkeit erhöhen können.

Daniel Oelbauer