Birgit Schönau: Circus Italia. Aus dem Inneren der Unterhaltungsdemokratie, Berlin: Berlin Verlag 2011, 219 S., ISBN 978-3-8270-0985-2, EUR 19,50
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Nicola Tranfaglia: La transizione italiana. Storia di un decennio, Mailand: Garzanti Libri 2003
Paul Ginsborg: Berlusconi. Ambizioni patrimoniali in una democrazia mediatica, Torino: Giulio Einaudi Editore 2003
Paul Ginsborg: Berlusconi. Politisches Modell der Zukunft oder italienischer Sonderweg? Aus dem Englischen von Friederike Hausmann, Berlin: Wagenbach 2005
Nicola Tranfaglia: Vent'anni con Berlusconi (1993-2013). L'estinzione della sinistra, 2. Auflage, Mailand: Garzanti Libri 2009
Aram Mattioli: "Viva Mussolini!". Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
Tilmann Lahme: Golo Mann. Biographie, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2009
Robert Dallek: John F. Kennedy. Ein unvollendetes Leben. Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber, Peter Torberg, München: DVA 2003
Henning Klüver: Der Pate - letzter Akt. Eine Reise ins Land der Cosa Nostra, München: C. Bertelsmann 2007
Seit Goethe spürt fast jeder Deutsche, der länger in Italien lebt und auf sich hält, den Drang in sich, ein Italien-Buch zu schreiben und sich damit selbst zu verewigen. Vor allem Journalisten kennen in diesem Punkt keine Zurückhaltung. Ein Jahr Italien ein Buch, zwei Jahre Italien zwei Bücher - Bücher, die man am besten gleich vergisst.
Das neue Buch der deutschen Italienkorrespondentin Birgit Schönau fällt nicht in diese Kategorie. Die ZEIT-Journalistin treibt auch - Gott sei Dank - weder eine Rettungsmission noch eine Renaissancevision, wie das in der Ära Berlusconi Mode geworden ist. Sie will Italien nur erkunden und startet deshalb eine Tour durch "ein verstörtes, verunsichertes Land, das nicht mehr wagt, an sich selbst zu glauben". Die Inspektionsreise beginnt in Verona, sie führt über Mailand, Florenz und Rom nach L'Aquila und Neapel bis an die Stiefelspitze, ehe sie in Sizilien endet. Überall trifft Birgit Schönau einfache, sonderbare und prominente Menschen, die sie ausführlich zu Wort kommen lässt. Auf diese Weise entsteht ein höchst differenziertes Bild des heutigen Italien, das in seiner Mischung aus Schattenseiten und Lichtblicken viel schwerer zu deuten ist, als der reißerische Schutzumschlag und manche steile These des Buches vermuten lassen.
In Verona beispielsweise spricht Schönau mit dem Bürgermeister von der Lega Nord und einem Nudelproduzenten mit Weltmarktambition. Der eine verfolgt eine ausländerfeindliche Politik, der andere braucht ausländische Arbeitskräfte und sorgt deshalb vorbildlich für sie. Radikale Lega und moderates Lega-Land - "wie passt das zusammen?" Diese Frage wiederholt Birgit Schönau in vielen Varianten. Auch in Mailand, wo sie sich mit der steinreichen Familie Moratti unterhält. Die eine Hälfte der Familie ist dezidiert gegen Berlusconi, die andere hält zu ihm - Letizia Moratti ist mit Unterstützung Berlusconis sogar zur Bürgermeisterin von Mailand gewählt worden. Die familiäre Eintracht stört das wenig, schließlich benützt man den Regierungschef ja nur. Berlusconi, so scheint es, gehört zwar halb Mailand, er und seine Familie gehören aber dennoch nicht dazu. Der alte Industrieadel wahrt Distanz und wartet ab, bis der Parvenü wieder verschwindet.
In L'Aquila, der von einem Erdbeben verwüsteten Stadt, konstatiert die Reporterin beeindruckende Wiederaufbauerfolge. In Kalabrien begegnet sie dem blanken Elend der illegalen Erntehelfer aus Afrika, die von der Mafia kontrolliert und von Einsatz zu Einsatz gehetzt werden. In Apulien ist dagegen das moderne Italien zu besichtigen. Birgit Schönau trifft hier den Ministerpräsidenten der Region, Nichi Vendola, einen bekennenden Homosexuellen mit kommunistischer Vergangenheit, der zum Hoffnungsträger der politischen Linken in Italien geworden ist. Vendola steht seit 2005 an der Spitze der erzkatholischen Region, die in der ganzen Welt bekannt ist als Heimat und Wirkungsstätte von Padre Pio, dem "populärsten Volksheiligen" Italiens, dessen gigantische Wallfahrtskirche in San Giovanni Rotondo jährlich sieben Millionen Pilger anzieht.
Jede dieser Reportagen ist detailreich, informativ und spritzig geschrieben. Am packendsten ist das elfte Kapitel mit dem schönen Titel: "Sizilien: Himmelsstürmer im Mythenmeer. Die unendliche Geschichte der Brücke von Messina". Das Jahrtausendprojekt ist jedermann bekannt, es zählt auch zu den Lieblingsträumen Berlusconis: "Gut 3300 Meter lang und 65 Meter hoch soll die Brücke die Meerenge von Messina überspannen, mit Eisenbahngleisen in der Mitte und rechts und links davon einer Autobahn. Die Pfeiler, auf denen die Brücke auf Sizilien und in Kalabrien liegt, sollen 382 Meter hoch werden, 58 Meter höher als der Eiffelturm inklusive Fernsehantenne. [...] Die größte Insel des Mittelmeeres mit 5,3 Millionen Einwohnern wird dann keine richtige Insel mehr sein."
Birgit Schönau hat genau recherchiert. Sie skizziert die Wurzeln dieses Projekts, das bereits im Alten Rom bestand und einen Karl den Großen ebenso faszinierte wie die Normannen. Außerdem entwirft sie mit knappen Strichen die Geschichte des verheerenden Erdbebens von 1908, das Messina in Schutt und Asche legte und mehr als 100.000 Todesopfer forderte; zahlreiche Familien hausen heute noch in Baracken am Rande der Stadt - als stete Mahnung, dass die Gegend als hoch gefährdet gilt. Schließlich lässt Birgit Schönau Gegner und Befürworter des Projekts und einen sachverständigen Wirtschaftsprofessor zu Wort kommen, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält: "Die Brücke könne schädlich sein für Siziliens Wirtschaft. Denn Sizilien sei ja schon weiter als die Brücke."
Ein Zurück, so scheint es, gibt es nicht - aber auch kein Voran: Die Planungen sind abgeschlossen, die Aufträge vergeben, 240 Millionen Euro Bußgeld wären fällig, würden sie zurückgezogen. Dennoch lässt der Baubeginn auf sich warten, er wird immer weiter in die Zukunft verschoben. In Messina, so Schönau, baut man mit enormen Kosten am teuersten Luftschloss der Welt.
Schönaus Buch ist kein wissenschaftliches Werk. Es ist eine Großreportage mit teils hinreißenden Geschichten über ein Land in der Krise, das uns in seiner faszinierenden Ambivalenz dargeboten und näher gebracht wird. An Epigonen dieser Art hätte selbst Goethe seine Freude gehabt.
Hans Woller