Rezension über:

Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2009, 1568 S., ISBN 978-3-406-58283-7, EUR 49,90
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Rezension von:
Stephan Conermann
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Conermann: Rezension von: Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 6 [15.06.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/06/15402.html


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Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt

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Aus chinesischer Perspektive könnte im 21. Jahrhundert die Normalität einer globalgeschichtlichen ostasiatischen Dominanz wiederhergestellt werden. Das europäische imperiale Zwischenspiel dauerte (nach Osterhammel) ohnehin nur knapp 200 Jahre - von 1760 bis in die 1960er Jahre (615f.) - und Zeichen für ein Ende der "westlichen" Vorherrschaft mehren sich - nach gewissen Lesarten globaler Trends ebenfalls. Der "europäische Sonderweg" neigt sich offenbar, so auch viele asiatische Stimmen, seinem Ende zu. Insofern wäre es nicht ganz abwegig, davon auszugehen, dass wir bald mit plausiblen chinesischen globalgeschichtlichen Darstellungen konfrontiert werden, die mit guten Gründen die Sicht des "Reiches der Mitte" einer europäischen Fokussierung gleichberechtigt gegenüberstellen.

Das "europäische" Jahrhundert, um das es in dem hier zu besprechenden Werk geht, fällt in christlicher Zeitrechnung auf die Epoche zwischen 1770 und 1918: "Nie zuvor hatte die westliche Halbinsel Eurasiens derart große Teile des Globus beherrscht und ausgebeutet. Niemals hatten Veränderungen, die von Europa ausgingen, eine solche Durchschlagskraft in der übrigen Welt. Niemals wurde auch die europäische Kultur - weit jenseits der Sphäre kolonialen Zugriffs - dermaßen begierig aufgenommen." [20] Die Vorgeschichte ist umstritten, doch liegen mittlerweile gewichtige Studien vor, die - im Gegensatz zu den Grundannahmen etwa der Weltsystemtheoretiker um Immanuel Wallerstein - von einer multizentrischen Weltwirtschaft bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ausgehen. Erst in einem "langen" 18. Jahrhundert, das man - mit Osterhammel - mit den 1680er Jahren beginnen lassen kann, macht sich weltweit - und nicht bloß im atlantischen Raum - europäischer Einfluss deutlich bemerkbar. Diese Aufwertung des "frühneuzeitlichen" Asiens haucht der bis heute so wirkmächtigen "Warum Europa?"-Debatte neues Leben ein: "Je näher Europa und Asien für die frühe Neuzeit aneinanderrücken, je geringer die qualitativen und quantitativen Unterschiede werden, desto rätselhafter wird die spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts unverkennbare Große Gabelung (great divergence) der Welt in wirtschaftliche Gewinner und Verlierer." (927) Diese als "Weltschere" bekannte Entwicklung kommt letztlich einer globalen Durchsetzung der europäischen "Moderne" gleich, als deren Parameter man u.a. den "Beginn eines langfristigen Wachstums der Pro-Kopf-Einkommen; eine rationale, rechenhafte Lebensführung: den Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft; die Ausweitung politischer Partizipation; die Verrechtlichung von Herrschaftsverhältnissen und gesellschaftlichem Umgang; die Entwicklung von Zerstörungskapazitäten neuartiger Dimension; die Umorientierung der Künste von der Nachahmung der Tradition zur kreativen Zerstörung ästhetischer Normen" (1282) nennen kann.

Beginnen lassen möchte Osterhammel - in Anlehnung an Koselleck - sein "langes" 19. christliches Säkulum mit einer "Sattelzeit" (1770-1830), in der er grundlegende Prozesse verortet: (1) die drastische Veränderung der Kräfteverhältnisse auf der Welt; (2) die Stärkung der "weißen" Position durch die um 1830 abgeschlossene politische Emanzipation frühneuzeitlicher Siedlergesellschaften in der westlichen Hemisphäre und die gleichzeitige Kolonialisierung Australiens; (3) das Aufkommen inkludierender Solidaritätsformen auf der Grundlage eines neuen Ideals staatsbürgerlicher Gleichheit, (4) eine allmähliche verfassungsstaatliche Trendwende (ab 1830), die allerdings vor den "farbigen" Kolonien der europäischen Mächte Halt machte; (5) das nahezu unangefochtene Festhalten an der Sklaverei als Relikt extremer frühneuzeitlicher Herrengewalt; (6) den Wendepunkt von weltweiter Stagnation zu dynamischerer und im ökonomischen Sinne "intensiver" Entwicklung (ab den 1820er Jahren). (104-109) Es folgt eine "viktorianische" Phase, "in der sich zumindest für Europa jene Kulturerscheinungen konzentrierten, die im Rückblick als charakteristisch für das 19. Jahrhundert gelten." (103) Den Schlusspunkt, das Fin de Siècle, bilden für ihn dann die auf die 1880er Jahre folgenden drei Dezennien, wobei ihr Ende eher 1918/19 als 1914 darstellt. Als Kennzeichen dieser Endphase führt Osterhammel auf: (1) Erst 1890 überrunden in der geschätzten weltweiten Energienutzung mineralischer Kraftstoffe (Öl, Kohle) die Biomasse; (2) eine neue Phase der Industrialisierung setzt ein und weitet sich geographisch aus; (3) das Zeitalter multinationaler Konzerne beginnt; (4) eine intensivierte imperialistische Expansion nimmt Fahrt auf; (5) die politischen Ordnungen konsolidieren sich; (6) weltweit entsteht eine Öffentlichkeit; (7) erste anti-kolonialistische Bewegungen formieren sich. (110-114) Über die jeweiligen Kriterien und Zuschreibungen mag man im Einzelnen gewiss herzlich streiten, doch stellen sie allesamt das Ergebnis wohlfeiler Überlegungen dar.

Osterhammel versteht seine "Weltgeschichte" als ein "materialreiches Interpretationsangebot." (16) Damit umschreibt er sehr schön den Leseeindruck, den der Rezensent gewonnen hat. Wir haben es mit einer unglaublich gelehrten Gesamtschau zu tun, die zwar Europa als Ausgangspunkt der extremen Verdichtung aller gesellschaftlichen Prozesse während des 19. Jahrhunderts in das Zentrum stellt, gleichzeitig jedoch die Auswirkungen, Aneignungen und Rückkopplungen in den außereuropäischen Regionen, insbesondere in Ostasien und Amerika, aber auch in der nahöstlichen Welt und in Süd- und Südostasien einzubeziehen versucht. Diese bewusste Einbindung des "Restes der Welt" macht den großen Reiz und die große Kraft des Buches aus und führt für den "normalen" wie den mit nicht-europäischen Gesellschaften befassten Historiker zu wirklich innovativen Hinsichten und Erkenntnissen. Aus diesem Grund wird das Buch sicherlich für geraume Zeit der Maßstab für globalgeschichtliche Synthesen bleiben.

Das Design des Werkes, das dezidiert weder einer Metaerzählung folgt noch als chronologische Narration daherkommt, ist auf den ersten Blick recht unkonventionell: Auf eine Einleitung folgen drei "Annäherungen", d.h. Voraussetzungen bzw. allgemeine Parameter für alles folgende: (1) Gedächtnis und Selbstbeobachtung, (2) Zeit, (3) Raum. Acht "Panoramen" (jeweils eines Wirklichkeitsbereiches) schließen sich an: (1) Sesshafte und Mobile, (2) Lebensstandards, (3) Städte, (4) Frontiers, (5) Imperien und Nationalstaaten, (6) Mächtesysteme, Kriege, Internationalismen, (7) Revolutionen sowie (8) Staat. Ergänzend kommen weitere sieben Themen hinzu. Jedes dieser zusätzlichen Kapitel bietet eine "zuspitzende, entschiedener ausgewählte und stärker essayistisch formulierte Diskussion einzelner Aspekte, die bewusst auf vieles verzichtet und besondere Beispiele vor allem deshalb heranzieht, um allgemeinere Argumente zu veranschaulichen." (22): (1) Energie und Industrie, (2) Arbeit, (3) Netze, (4) Hierarchien, (5) Wissen, (6) "Zivilisierung" und Ausgrenzung und (7) Religion. In einem Schlusskapitel zieht Osterhammel dann noch einmal ein Resümee seiner Überlegungen.

Alle 18 Einzelkapitel präsentieren dem Leser überraschend detailfreudige, aber auch stets um Synthesen bemühte globalgeschichtliche Essays zu sinnvoll ausgesuchten Aspekten und Phänomenen des 19. Jahrhunderts. Dabei ergibt erst - im Unterschied zu den Ansätzen von Christopher Bayly und Eric Hobsbawm - die Zusammenführung der einzelnen Teile einen Gesamteindruck des Jahrhunderts: "Diese Ebene der immer noch sehr allgemeinen, aber doch als Teilsysteme eines kaum fassbaren Ganzen erkennbaren Ordnungen menschlichen Gemeinschaftslebens gibt dem Buch seine Grundstruktur, die nur auf den ersten Blick enzyklopädisch anmutet, eigentlich aber eine konsekutive Umkreisung ist." "An jedem der Teilgebiete wird", so Osterhammel weiter, "nach dessen eigenen Bewegungsmustern ("Logiken") und nach deren Verhältnis zwischen eher allgemeinen Entwicklungen und eher regionalen Varianten gefragt. Jeder Teilbereich hat seine eigene Zeitstruktur: einen besonderen Beginn, ein besonderes Ende, spezifische Tempi, Rhythmen, Binnenperiodisierungen." (19)

Für jemanden wie den Rezensenten, der von der außereuropäischen Geschichte her kommt, stellt die Abhandlung eine wahre Fundgrube wichtiger Einsichten dar, die wiederum zu neuen Fragestellungen führen. Es ist, wie natürlich andere bereits bemerkt haben, völlig unmöglich, auch nur annähernd alle klugen Gedankengänge des Autors wiederzugeben. Daher seien beispielhaft einige für mich besonders interessante Aspekte herausgepickt: Nach Osterhammel begann die Zivilisierungsmission im späten 18. Jahrhundert, kurz nachdem der Begriff "Zivilisation" zu einer zentralen Selbstbeschreibungskategorie europäischer Gesellschaften geworden war. (1175) Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte das Prestige der europäischen Zivilisation außerhalb Europas seinen Höhepunkt erreicht und steigerte sich in den Jahrzehnten um 1900 zu größter zivilisationsmissionarischer Emphase. Interessanterweise wurde das Recht (und nicht Marktwirtschaft oder Religion) zum wichtigsten Medium transkultureller Prozesse der Zivilisierung. Recht war wirkungsvoller als Religion, denn es ließ sich durch seine Importeure auch den örtlichen Bedürfnissen anpassen, wo die einheimischen Normen und Werte sich gegen religiöse Invasionsversuche immun zeigten. (1180) Hinzu kamen Rasse und Rassismus, um 1880 ein Grundelement des kollektiven Imaginären in den Gesellschaften des Westens und nun neben Klasse, Staat, Religion oder Nationalgeist eine geschichtsphilosophische Kategorie. Diese Konzepte ließen sich leicht "wissenschaftlich" untermauern, wobei die hier gemeinte "Wissenschaft" selbst europäischen Ursprungs war. (1145) Nur wenige Elemente nichteuropäischer Wissensbestände gingen in die großen Ordnungsschemata dessen ein, was um 1900 universell gültige Wissenschaft darstellte. Verbreitung fanden die europäischen Ideen in erster Linie in den Imperien, die im 19. Jahrhundert neben den Nationalstaaten die größten politischen Ordnungseinheiten menschlichen Zusammenlebens ausmachten. Sie waren um 1900 auch zu den einzigen geworden, die weltweit ins Gewicht fielen. (565) Imperialistische Politik ging dabei von einer Hierarchie der Völker aus, immer von Starken und Schwachen, meist kulturell oder rassisch abgestuft. Imperialisten sahen sich als zivilisatorisch überlegen und daher zur Herrschaft über andere berechtigt. (616) Hochinteressant sind in diesem Zusammenhang die Bemerkungen, die Osterhammel über typische und verbreitete Erfahrungen in Imperien des 19. Jahrhunderts anstellt. (663-672) Wie gesagt: ein willkürlich herausgegriffener Argumentationsstrang.

Trotz aller innovativen Interpretationen bleibt die Kardinalfrage: Warum gelang es Europa, sich innerhalb von 150 Jahren die Welt Untertan zu machen? Natürlich: "Die intellektuellen Grundlagen der Moderne wurden bereits während der Frühen Neuzeit in Europa gelegt, frühestens im Zeitalter Montaignes, spätestens in der Aufklärung", und es ist in der Tat "schwierig, für die Zeit zwischen etwa 1800 und 1900 eigenständige und unverwechselbare indische, chinesische, nahöstlich-islamische oder afrikanische Wege in die Moderne zu finden, die dem hegemonialen westeuropäischen Moderne-Modell Eigenes entgegensetzten. Solche Differenzierungen begannen sich erst nach der Jahrhundertwende bemerkbar zu machen, anfangs eher ideengeschichtlich als strukturell" (1281). Dennoch bleiben die Gründe für die "Weltschere" bzw. die "Große Gabelung" auch nach der Lektüre des Werkes weiterhin undeutlich. Ich denke, dass man zur Verbesserung der Tiefenschärfe - wie auch Osterhammel in Anlehnung an Jost Dülffer fordert - die Möglichkeiten von Vergleichen mit der nicht-europäischen Welt noch viel häufiger als bisher nutzen sollte. (1284) Klassen, Schichten, Gruppen, Milieus, Familienformen, Geschlechterbeziehungen, Lebensstile, Rollen und Identitäten, Konflikte und Gewalt, Kommunikationsbeziehungen und kollektive Symbolwelten - viele dieser Aspekte eignen sich für den Vergleich zwischen räumlich voneinander entfernten Gesellschaften.

Stephan Conermann