Niels Grüne / Simona Slanička (Hgg.): Korruption. Historische Annäherungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 474 S., ISBN 978-3-525-35850-4, EUR 69,00
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Im Jahr 2007 untersuchten die Soziologen Raymond Fisman und Edward Miguel die sonderbaren Verhaltensweisen von UN-Diplomaten. Da Diplomaten Immunität besitzen, kann die New Yorker Polizei sie nicht dazu zwingen, ihre Strafzettel zu bezahlen. Fisman und Miguel zeigten in ihrer Studie, dass die Entscheidung, ob bezahlt wurde oder nicht, unter anderem von kulturellen Unterschieden geprägt war. [1] Diplomaten aus Ländern mit einer hohen Korruptionsrate zahlten selten. Nach dem internationalen Korruptionsindex wären dies zur Zeit Irak, Afghanistan und Somalia. Aber die Studie zeigte auch, dass mit Vorliebe Diplomaten, die Amerika gegenüber eine kritische Haltung einnahmen, im Parkverbot standen. Die Hoffnung der New Yorker Stadtverwaltung scheint daher auf Botschaftspersonal aus Ländern mit einer niedrigen Korruptionsrate zu ruhen, die darüber hinaus auch noch pro-amerikanisch eingestellt sind.
Der Aufsatz zeigt, dass nicht nur die Medien des 21. Jahrhunderts sich in immer stärkeren Maße mit dem Thema Korruption beschäftigen. Auch die Geisteswissenschaftler entwickeln ein neues Interesse an 'Gefährlichen Geschenken' (Valentin Groebner). Doch der Begriff Korruption selbst bleibt schwer zu fassen. Niels Grüne und Simona Slanička haben es sich in ihrem Sammelband 'Korruption. Historische Annäherungen' nicht leicht gemacht. Sie bieten eine wahre tour de force: 20 Autoren untersuchen von der Antike bis zum 20. Jahrhundert 'Amtsmissbrauch', Klientelismus und Bestechlichkeit. Sie arbeiten dabei in großen geografischen und zeitlichen Räumen - vom spätrepublikanischen Rom über das 'deutsche' Mittelalter bis hin zum frühneuzeitlichen Großbritannien, Frankreich, Preußen und den USA und zuletzt der UDSSR im 20. Jahrhundert. Diese Breite ist beeindruckend, doch sie wirft Fragen auf.
Zuerst einmal sind die kulturellen Unterschiede dieser Länder zu berücksichtigen. Es handelt sich um Gesellschaften, die Korruption verschiedenartig definieren und deren Korruptionsdiskurse schwer zu vergleichen sind, da sie sich zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befanden. Es besteht also die Gefahr, dem Leser einen Gemischtwarenladen an Korruption zu bieten. Eine weitere, grundlegende Frage ist, wie sich die Korruptionsforschung von der Patronage- und Klientelismusforschung und seit neuestem auch der Netzwerkforschung unterscheidet (oder sich vielleicht mit ihr überschneidet?). Daraus ergibt sich dann wieder das Problem, ob man den Korruptionsbegriff vor 1800 überhaupt anwenden darf. Werner Plumpe, der sich an anderer Stelle mit der Korruptionskommunikation beschäftigt hat, sieht "Korruption und Moderne koevolutiv angelegt." [2] Aus diesem Grund würde es wenig Sinn machen, den Begriff auf frühere Epochen auszuweiten. Doch Niels Grüne vertritt im vorliegenden Band die Ansicht, dass "herrschafts- und verwaltungsorganisatorische Entwicklungen" schon früher korruptionsgeschichtlich wirksam wurden. Er fordert daher auch eine Einbeziehung des Spätmittelalters: "Gerade aus akteurszentrierter Perspektive beginnt sich vielmehr zu zeigen, wie häufig die Zeitgenossen auf verflechtungsförmige Begünstigung mit Kritik und Widerstand antworteten." (26) Doch Grüne führt diese Debatte keinesfalls diktatorisch und lässt Jens Ivo Engels in seinem Beitrag 'Politische Korruption und Modernisierungsprozesse' einen anderen Weg gehen. Engels diagnostiziert eine Veränderung des Korruptionsbegriffs erst durch die zunehmende Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Nicht alle Autoren stimmen ihm hier zu. Die Mehrheit folgt der Vorstellung, dass der Korruptionsbegriff außerhalb von Zeit- und Raumgrenzen angewendet werden kann. Uwe Walter untersucht in seinem Aufsatz den Kampf gegen die Korruption bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. An dem Versuch, adelige Stimmeinwerbung einzudämmen zeigt er kunstvoll, wie sich die Wahrnehmung von Korruption in einem ständigen Flux befand. Auch Simona Slanička, die sich mit der Semantik von Fürstenspiegelliteratur beschäftigt, arbeitet heraus, welche Methoden zur Korruptionsverhütung in der Vormoderne angemahnt wurden. Dieser semantische Faden wird mit weiteren materialreichen Aufsätzen von Gunda Steffen-Gaus und Felix Saurbier ergänzt.
Die folgenden Themenblöcke des Bandes befassen sich dann mit "Akzeptanzproblemen personaler Netzwerke", "Institutionellen Regulierungen" und "Partizipation und Protest". Der Block über "Normalität und Akzeptanzprobleme personaler Netzwerke" ist besonders interessant, da er unter anderem die USA und die UDSSR untersucht. Thomas Welskopp stellt in seinem Beitrag die ketzerisch Frage, ob Korruption für eine Gesellschaft immer schädlich ist und kommt für die USA zu einer überraschenden Antwort. Stephan Merl hingegen, der eine der korruptesten Gesellschaften untersucht (Russland und die Sowjetunion) verwirrt mit seinem Ergebnis. Er glaubt nicht, dass der Korruptionsbegriff auf die russische Gesellschaft anzuwenden ist und diagnostiziert eine Symbiose von 'verbaler Verurteilung und heimlicher Praktizierung'. Dies ist sicher richtig, das Bewusstsein aber, dass man die Korruption in den Griff bekommen muss, war ernsthaft vorhanden. Schon Lenin hatte ja der Korruption den Kampf angesagt, und am Ende versuchte Andropow noch einmal das Blatt zu wenden und die schlimmsten Auswüchse zu beenden. [3] Es war ein - periodisch - ernst gemeinter Kampf, der natürlich restlos verloren wurde.
Der letzte Themenblock bringt noch einmal zwei wichtige Pole auf den Punkt: Patronage als Diskurs der Verteidiger; Korruption als Diskurs der Kritiker (d.h. Language of patronage and language of corruption). Hier stellt sich den Autoren die Frage, welche Verhaltensweisen, von wem mit welchem Motiv als korrupt bezeichnet werden. Zwischen Debatten und Praktiken zu trennen, ist entscheidend und Jens Ivo Engels mahnt daher: "Wer - auch als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler - von korrupten Praktiken spricht, nimmt von Beginn der Untersuchung eine apriorische Wertung des Untersuchungsgegenstandes vor: Korruption ist stets moralisch verwerflich." (37). Diesen Fehler kann man keinem der Autoren vorwerfen: Katia Beguin wirft einen kühlen Blick auf die Situation der Rentiers in Frankreich, und Sebastian Knakes auf die römisch-deutsche Königswahlen von 1346 bis 1486.
Insgesamt ist dieser Sammelband nicht zuletzt deshalb interessant geworden, weil er seine Autoren in vielen -auch gegensätzlichen- Richtungen Spielraum lässt. Dieses theorieoffene Denken ist erfrischend. Die zahlreichen Aufsätze über den Mangel an Transparenz erinnern darüber hinaus auf deprimierende Weise daran, dass -und dies ist natürlich ganz moralisch gesprochen - korrupte personale Verflechtungen immer noch eine zu große Rolle in unserer Gesellschaft spielen.
Anmerkungen:
[1] Raymond Fismann / Edward Miguel: Corruption, Norms and Legal Enforcement: Evidence from Diplomatic Parking Tickets, in: Journal of Political Economy 115, 6 (2007), 1020-1048.
[2] Werner Plumpe: Korruption. Annäherungen an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen, in: Jens Ivo Engels / Andreas Fahrmeir / Alexander Nützenadel (Hgg.): Geld - Geschenke - Politik: Korruption im neuzeitlichen Europa, in: HZ (2009), Beiheft 48, 19-47, hier 29.
[3] Luc Duhamel: The KGB Campaign against Corruption in Moscow, 1982-1987, Pittsburg 2010.
Karina Urbach