Christian Jansen: Gründerzeit und Nationsbildung 1849-1871 (= Seminarbuch Geschichte; 3253), Stuttgart: UTB 2011, 280 S., ISBN 978-3-8252-3253-5, EUR 19,90
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Christian Jansen ist als exzellenter Kenner der Revolution 1848/49 und der Geschichte der Achtundvierziger in den Jahrzehnten nach der Revolution ausgewiesen. Diesen Spuren folgt auch seine Geschichte der "Gründerzeit". Mit diesem Begriff rückt er Bismarck programmatisch aus dem Handlungszentrum der Darstellung. Nicht Reichsgründungsära, sondern Gründerzeit als eine Ära des Bürgertums und der "Verbürgerlichung der deutschen Gesellschaften" (242); ohne die Revolution und die Achtundvierziger keine deutsche Nationalstaatsgründung - diese Grundannahmen liegen der Konzeption des Buches zugrunde. Weitere Leitlinien sind: keine Fixierung auf Preußen, so dass das Ende der langen Tradition deutscher Vielstaatlichkeit markant hervortritt, und Würdigung der konkurrierenden nationalpolitischen Programme. Was nicht verwirklicht werden konnte, wird nicht an den Rand gedrängt. So kann Jansen die Offenheit der damaligen Situation sichtbar machen.
Er nennt es einen "Paradigmawechsel" (10). Doch diese Perspektive bestimmt inzwischen zahlreiche Studien, darunter auch Gesamtdarstellungen. [1] Allgemein durchgesetzt hat sie sich in der Geschichtsschreibung allerdings nicht, und erst recht nicht im deutschen Geschichtsbild.
Das Buch ist chronologisch und systematisch gegliedert. Zunächst werden in zwei Kapiteln prägnant die Revolution 1848/49 und ihr "Nachleben" charakterisiert, dann folgt ein Kapitel über Wirtschaft und Gesellschaft. Das 4. Kapitel skizziert die politischen Entwicklungen in den fünfziger Jahren: international, in den deutschen Staaten und in den politischen Gruppierungen in der Gesellschaft. Das 5. Kapitel ist Preußen seit 1858 gewidmet. Warum nicht von einer "Neuen Ära" gesprochen werden sollte, begründet Jansen in einer farblich abgehobenen Rubrik. Solche Hervorhebungen, die auch andere Kapitel enthalten, dienen vornehmlich dazu, Begriffe zu klären (z.B. Parteien im 19. Jahrhundert; Verfassungskonflikt; Lückentheorie; Industrialisierung oder industrielle Revolution?; Preußisch-deutscher, Deutscher oder Preußisch-österreichischer Krieg?).
Zentral für Jansens Konzeption ist das 6. Kapitel: "Das Scheitern der Nationalstaatsgründung von unten". Hier werden zunächst die Versuche zur Reform des Deutschen Bundes in den Jahren 1862/63 erläutert. Sie sind gescheitert, doch sie boten eine "realpolitische Option" (161). Warum sie nicht realisiert werden konnten, wird eingehend dargestellt. Ihr Scheitern habe die Weichen für den kriegerischen Weg zum deutschen Nationalstaat gestellt. Den anschließende Abschnitt über den Krieg um Schleswig-Holstein 1863/64 stellt Jansen unter die Überschrift: "Bismarck manövriert die Nationalisten aus". Er "besiegte [...] die innenpolitische Opposition auf außenpolitischem Feld." (175) Die beiden abschließenden Abschnitte widmen sich den neuen "Parteien im freiheitlich-nationalistischen Lager" (179) - so umschreibt Jansen die Verfechter eines demokratischen Föderalismus, die sich als Deutsche Volkspartei konstituierten - und den Anfängen der "Social-Demokratie". Letztere war damals noch unbedeutend, wie er betont, doch als Kern einer künftigen Massenbewegung verdiene sie Aufmerksamkeit.
Das alles ist informativ und zeigt die Vielfalt der nationalpolitischen Konzeptionen in der deutschen Gesellschaft. Doch ist es angemessen, von der Möglichkeit einer "Nationalstaatsgründung von unten" auszugehen? Diese Formulierung überdehnt wohl doch die Handlungschancen aller politischen Richtungen in der nationalen Bewegung. Ihre Organisationen und Aktivitäten haben zweifellos die Bahnen festgelegt, in denen sich die Nationalstaatsgründung von oben vollzogen hat. Die häufige Fixierung auf Bismarck als dem deutschen Gründungsheros ist nicht realitätsgerecht. Das betont Jansen überzeugend. Die Nationalbewegung war ein zentraler Akteur, ohne den Bismarcks Weg zum Norddeutschen Bund und dann zum kleindeutschen Nationalstaat anders verlaufen wäre. Sie hat den Möglichkeitsraum der staatlichen Akteure wie Bismarck mitgestaltet. Doch die Chance zu einer Nationalstaatsgründung von unten lässt sich auch in Jansens Darstellung nicht erkennen.
Problematisch finde ich die Überschrift, unter der Jansen im 7. Kapitel den Weg in den Norddeutschen Bund und das Deutsche Reich abhandelt: "Ein imperialer Nationalstaat mitten in Europa". Er analysiert hier präzise, warum 1866 als Epochenjahr in der jüngeren deutschen Geschichte zu werten ist: "Anfang zur Bildung eines Nationalstaats nach westlichem Muster", "supranationale Modelle", die auf Einschluss der Habsburgermonarchie zielten, sind gescheitert (212). Auch in der Luxemburg-Krise konnte sich die "westlich orientierte Strömung im deutschen Nationalismus durchsetzen" (218). Erst im Kaiserreich sei sie ins Abseits geraten, nicht schon in der Gründerzeit. Die Hoffnungen der "westlich orientierten Liberalen und Demokraten" (218f.) erfüllten sich zwar nicht, da aus dem Krieg gegen Frankreich eine "großpreußische Reichsgründung" (228) hervorgegangen sei. Doch rechtfertigt dies, den Nationalstaat im Gründungsakt imperial zu nennen? Hier werden spätere Entwicklungen in die Gründerzeit zurückdatiert. Großpreußisch ist nicht imperial.
Im letzten Kapitel bilanziert Jansen seine Deutung der deutschen Gründerzeit in sieben Punkten (242-245): "Durchbruch zur Industriegesellschaft", gesellschaftliche Verbürgerlichung, "Blütezeit bürgerlicher Initiativen in Politik und Gesellschaft", die Soziale Bewegung als "zukunftsträchtige Form zivilgesellschaftlichen Engagements", Anfänge der Frauenbewegung, Entstehung des modernen Antisemitismus, Rückkehr des großen Krieges in die europäische Politik. Letzteres sehe ich anders. Den europäischen Großmächten gelang es damals, die nationalstaatlichen Gründungskriege in Deutschland und Italien auf europäische Regionalkriege zu begrenzen - eine große Leistung. Obwohl die europäische Mächteordnung mit den beiden neuen Staaten grundlegend verändert wurde und die nationalen Emotionen auf allen Seiten brodelten, brach nicht der große europäische Krieg aus.
Das Buch endet mit der Charakterisierung der Reichsgründung aus "heutiger Sicht" als "Pyrrhussieg" (248). Jansen begründet dieses überraschende Urteil mit dem Ende der liberalen Reformära in den siebziger Jahren. Rechtfertigt die zweite Reichsgründung, wie man das genannt, was nun geschah, eine solche Einschätzung? Gewiss, der Nationalstaat von 1871 war nicht der, den die Liberalen und erst recht die föderativen Demokraten erstrebt hatten. Doch von einem Pyrrhussieg zu reden, heißt, allen liberal-demokratischen Hoffnungen auf Demokratisierung und volle Parlamentarisierung dieses Staates von vornherein jede Chance abzusprechen. Ein solches Urteil halte ich auch aus "heutiger Sicht" nicht für plausibel.
Christian Jansen ist ein höchst anregendes Buch gelungen, anregend auch dort, wo man nicht zustimmt. Um es im Unterricht an der Hochschule als Studienbuch einzusetzen, bedarf es aber wohl kräftiger Unterstützung für die Studierenden. Die ausgewählte Literatur, das Datengerüst und die Quellen in den Kapiteln bieten Hilfen. Dennoch setzt der Autor viel voraus und seine Deutungen fordern eine kritische Auseinandersetzung. Das Buch bietet also eine anspruchsvolle Meßlatte im akademischen Unterricht.
Anmerkung:
[1] Es sei nur auf die Epochendarstellungen von James Sheehan: German History 1770-1866, Oxford 1989, Wolfram Siemann: Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871, Frankfurt/M 1990, ders.: Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871, München 1995, Harm-Hinrich Brandt: Deutsche Geschichte 1850-1870, Stuttgart 1999, Friedrich Lenger: Industrielle Revolution und Nationalstaatsgründung, Stuttgart 2003 und jüngst von Mark Hewitson: Nationalism in Germany, 1848-1866, New York 2010 verwiesen.
Dieter Langewiesche