Judith Schachtmann / Michael Strobel / Thomas Widera (Hgg.): Politik und Wissenschaft in der prähistorischen Archäologie. Perspektiven aus Sachsen, Böhmen und Schlesien (= Berichte und Studien; Nr. 56), Göttingen: V&R unipress 2009, 344 S., ISBN 978-3-89971-741-9, EUR 41,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Thomas Widera: Dresden 1945-1948. Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004
Rolf-Dieter Müller / Nicole Schönherr / Thomas Widera (Hgg.): Die Zerstörung Dresdens 13. bis 15. Februar 1945. Gutachten und Ergebnisse der Dresdner Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahlen, Göttingen: V&R unipress 2010
Der Band geht auf eine im November 2007 in Dresden abgehaltene Tagung zurück und setzt die seit einiger Zeit in Gang gekommene, nicht zuletzt in Sachsen intensivierte wissenschaftshistorische Auseinandersetzung mit dem Fach Ur- und Frühgeschichte beziehungsweise (Mittelalter-)Archäologie und seiner politischen Vereinnahmung im Verlauf des 20. Jahrhunderts fort. Er wird von Michael Strobel und Thomas Widera mit einer ausführlichen Einleitung eröffnet, die die Fragestellung und den Forschungskontext der 16 nachfolgenden Beiträge deutscher, tschechischer und polnischer Archäologen und Historiker in wünschenswerter Klarheit skizziert. An sie schließen sich zunächst weitere theoretisch-methodologische Überlegungen Sebastian Brathers an, die das Paradigma der "Ethnische[n] Interpretationen in der europäischen Archäologie" dekonstruieren, zugleich aber auch das grundsätzliche Dilemma reflektieren, mit dem sich archäologische Forschung auch heute noch zwischen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und wissenschaftlichen Ansprüchen konfrontiert sieht. Brathers kritisch abgewogene Reflexionen werden am Ende des Bandes aus anderer Perspektive noch einmal aufgegriffen, wenn Stanisław Tabaczyński am Beispiel der Erfahrungen und politischen Rahmenbedingungen der polnischen Nachkriegsarchäologie der Frage "Quo Vadis archaeologia?" nachgeht. Dazwischen stehen 14 Beiträge, die mit ganz unterschiedlichen methodischen Ansätzen - aus fach-, institutionen- oder personengeschichtlicher Perspektive - diverse Facetten der deutschen, tschechischen und polnischen (mittelalter)archäologischen Forschung, ihrer Strukturen, Akteure, Institutionen sowie gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge und Wirkungen thematisieren.
So unternimmt Uta Halle einen Vergleich der deutschen archäologischen "Ost- und Westforschung" der 1920er und 1930er Jahre, bieten Susanne Grunwald und Karin Reichenbach Überblicke über die sächsische Burgwallforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beziehungsweise die schlesische Burgwallforschung zwischen 1900 und 1970, Ota Konrád über die "sudetendeutsche (archäologische) Wissenschaft" und ihre Einbindung in die zeitgenössischen Diskurse der Jahre 1918-1945, Jan Klápště über "Die Archäologie Böhmens im geschichtspolitischen Diskurs zwischen 1918 und 1989" und Michael Strobel zur "Institutionalisierung der archäologischen Denkmalpflege in Sachsen zwischen 1918 und 1945". Przemysław Urbańczyk schildert die Entwicklung der "Medieval Archaeology in Polish Historic-Political Discourse" und Jarmila Kaczmarek jene der "Archäologie in Westpolen und im Warthegau zwischen 1918 und 1945". Daneben stehen biografisch angelegte Untersuchungen über einzelne Forscherpersönlichkeiten und ihre spezifische Rolle in Wissenschaft und Politik, über Lothar F. Zotz von Volker Klimetzek, Bolko von Richthofen und Helmut Preidel von Tobias Weger, Werner Coblenz von Thomas Widera und über Hans Reinerth von Gunter Schöbel. Schließlich finden sich zwei weitere Beiträge über das "Verhältnis von Geld, Prähistorie und Nationalsozialismus" von Frederick Jagust und über die Rolle der Klassischen Archäologie im Nationalsozialismus von Marie Vigener.
Insgesamt eröffnet der Band in zweierlei Hinsicht einen guten Einblick: Er vergegenwärtigt zum einen den aktuellen Stand der historiografiegeschichtlichen Forschung zur Geschichte der (Mittelalter-)Archäologie in zentralen Teilen (Ost-)Mitteleuropas und führt zum anderen facettenreich vor Augen, wie eng Archäologie und Politik im 20. Jahrhundert miteinander verflochten waren. Dabei wird einmal mehr deutlich, dass weniger die Politik die Wissenschaft und Wissenschaftler für sich - mit Zwang oder Lockung - vereinnahmt hat, sondern sich vielmehr die Wissenschaftler durchweg von sich aus der Politik mit Blick auf persönliches Fortkommen, Einflusssteigerung oder aus innerer Überzeugung angedient haben.
Eduard Mühle