Rolf-Dieter Müller / Nicole Schönherr / Thomas Widera (Hgg.): Die Zerstörung Dresdens 13. bis 15. Februar 1945. Gutachten und Ergebnisse der Dresdner Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahlen (= Berichte und Studien; Nr. 58), Göttingen: V&R unipress 2010, 232 S., ISBN 978-3-89971-773-0, EUR 31,90
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Die Luftangriffe auf Dresden haben sich vor wenigen Tagen zum 67. Mal gejährt. Diverse Zeitungen berichteten, wie jedes Jahr, über das Gedenken an die Opfer und dessen Missbrauch durch rechtsradikale Gruppen. Wieder einmal zeigte sich, welche Brisanz dieser Themenkomplex nach fast sieben Jahrzehnten immer noch in sich trägt. Daher lohnt sich ganz aktuell ein Blick auf die vorliegende, bereits 2010 erschienene Publikation. Diese stellt die Ergebnisse der 2004 vom damaligen Dresdner Oberbürgermeister Ingolf Roßberg berufenen und durch Rolf-Dieter Müller geleiteten Historikerkommission vor, welche in erster Linie die bis dahin umstrittene Zahl der Opfer ermitteln sollte (5). Hinzu kamen noch die Frage nach etwaigen Tieffliegerangriffen auf die Bevölkerung und das Sammeln subjektiver Erinnerungszeugnisse. Geforscht wurde multiperspektivisch, interdisziplinär und ergebnisoffen (5, 13).
Die Einleitung bildet den längsten Beitrag des Bandes, da sie zugleich alle Arbeitsbereiche der Kommission vorstellt und die Ergebnisse präsentiert. Damit liefert sie eine Art Kurzfassung des Abschlussberichts, der ebenfalls 2010 fertig gestellt wurde und auf der Homepage der Stadt Dresden abrufbar ist. [1] Obwohl die Einleitung bereits sämtliche Antworten, welche die Leser am meisten interessieren dürften, zusammenfasst, lohnt sich dennoch auch ein Blick in die folgenden Beiträge, in denen Arbeitsweise und Ergebnisse der einzelnen Forschungsprojekte ausführlicher vorgestellt werden.
Für die entscheidende Frage nach der Anzahl der Opfer des 13. bis 15. Februar 1945 wurden drei verschiedene archivbasierte Ansätze verwendet. Der erste stellt eine Untersuchung der Akten zur Bergung, Registratur und Bestattung der Luftkriegstoten dar. Dabei wurde eine gesicherte Zahl von etwa 18.000 Opfern ermittelt, aufgrund verschiedener Unsicherheiten jedoch eine maximale Summe von 25.000 festgelegt (36). Dieser Ansatz wird ausgiebig in der Einleitung des Bandes besprochen und wird daher in keinem eigenen Beitrag thematisiert. Das gleiche gilt für den Versuch, die Zahl der Toten mit Hilfe eines Vergleichs der Bevölkerungsbilanz vor und nach den Luftangriffen zu bestimmen. Da die Anzahl der Flüchtlinge in Dresden am 13. Februar 1945, der Umfang der Abwanderung von Personen nach den Angriffen und andere Faktoren jedoch nicht geklärt werden konnten, kam dieser - zweite - Ansatz zu keinem Ergebnis (40). Die Auswertung des Sterbebuchs der Stadt Dresden und des Buchs für Todeserklärungen beim Standesamt I in Berlin stellt den dritten Ansatz dar, dem sich Rüdiger Overmans in einem Beitrag widmet. Letztlich wurden auch dabei etwa 18.000 Tote nachgewiesen und unter Berücksichtigung möglicher Fehler eine Maximalzahl von 20.000 in Erwägung gezogen (137). Die Kommission hat somit in einer aufwändigen Auswertung der verschiedenen Archive zwei sich stark überschneidende Ergebnisse erzielt. Die höchstmögliche Totenzahl des ersten Ansatzes von 25.000 wurde als endgültiges Maximum festgelegt (48).
Horst Boog erläutert in einem weiteren Beitrag die den Luftangriffen auf Dresden zugrunde liegende Strategie der alliierten Luftwaffen und schildert den Angriff vor allem aus militärtechnischer Sicht. Zudem geht er auch auf die völkerrechtlichen Aspekte des Luftkriegs ein. Rolf-Dieter Müller liefert ebenfalls eine Betrachtung der Ereignisse während des Krieges, wobei er die militärische Bedeutung Dresdens als Festung und Verkehrsknotenpunkt herausstellt und die Aktionen der dortigen Wehrmachtsverbände schildert. Dabei sucht er auch nach dem Ursprung der stark übertriebenen Opferzahlen der Luftangriffe, die sich bis in die heutige Zeit gehalten haben, wobei er den mittlerweile verstorbenen Zeitzeugen Eberhard Matthes als einen der Hauptverdächtigen betrachtet (76). Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass bereits der damalige Dresdner Polizeichef in seinem Abschlussbericht eine Zahl von etwa 25.000 Toten angab, was nahezu dem Ergebnis der Historikerkommission entspricht (92).
Drei der weiteren Beiträge tragen dazu bei, die Argumente für diese Opferzahl zu unterstützen. Helmut Schnatz vergleicht britische Luftangriffe auf andere deutsche Städte in Bezug auf die abgeworfene Bombenmenge und die Zahl der Getöteten mit denen von Dresden. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass selbst in Anbetracht der großen Menge von Flüchtlingen innerhalb der Stadt und der engen Bebauung des Geländes, Opferzahlen von mehr als 35.000 sehr unwahrscheinlich sind (117). Thomas Westphalen und Jörg Wicke betrachten die Luftangriffe aus archäologischer Sicht. Sie betonen, dass die heute zugeschütteten Kellerräume im Stadtgebiet bereits während der Enttrümmerung der Nachkriegszeit geräumt wurden und bei derzeitigen Grabungen nur sehr selten Opfer gefunden werden (141f.). Eine große Zahl an verschütteten und daher noch nicht aufgefundenen Toten ist deshalb nicht anzunehmen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das von Thomas Widera verfasste Expertengutachten zu den Brandtemperaturen während des 'Feuersturms'. Die aus den Akten ermittelten Opferzahlen wären wenig wert, wenn - wie oft behauptet wird - tausende Menschen restlos verbrannt wären und somit nicht in den Statistiken auftauchen würden (155). Das Gutachten kommt jedoch nach Auswertung verschiedener Indizien zu dem Schluss, dass auch im Dresdner 'Feuersturm' nicht die Voraussetzungen gegeben waren, eine große Zahl von Opfern quasi zu "verdampfen" (173).
Da Zeitzeugen immer wieder von Tieffliegerangriffen auf die Dresdner Bevölkerung am 13. und 14. Februar 1945 berichtet haben, ging die Historikerkommission auch dieser Frage nach. Die Ergebnisse dieser Nachforschungen stellt der Beitrag von Wolfgang Fleischer und Udo Hänchen vor. Auf Basis der Aussagen von Zeitzeugen wurden verschiedene Flächen innerhalb Dresdens ergebnislos nach MG-Munition aus Flugzeugbordwaffen abgesucht. Weil kein Beweis für derartige Angriffe erbracht werden konnte, wurde nach Erklärungen für die Diskrepanz zwischen den Ergebnissen der Kommission und den Erinnerungen vieler Dresdner Bürger gesucht. Eine Verwechslung des Geräuschs einschlagender Geschosse mit dem der massenhaft auftreffenden Brandbomben bei Nacht wird an dieser Stelle in Erwägung gezogen (183f.). Letztlich konnten Tieffliegerangriffe nicht völlig ausgeschlossen werden, klare Beweise wurden jedoch ebenso wenig gefunden. Detailliertere Informationen zu diesem Thema und weitere Lösungsansätze finden sich im Abschlussbericht der Historikerkommission und in einem ausführlichen Beitrag von Helmut Schnatz, der sich ebenfalls auf der Webseite der Stadt Dresden findet. [2]
Im Band selbst wird auch auf die subjektive Erfahrung der Zeitzeugen eingegangen. Wie Alexander von Plato und Nicole Schönherr betonen, ging es der 'Oral-History'-Gruppe der Historikerkommission nicht um das Ergründen von Fakten, sondern um die Betrachtung der "verarbeiteten Geschichte" (190). Insgesamt 1.314 Aussagen wurden gesammelt, darunter 90 längere Interviews, und ein Archiv mit subjektiven Erinnerungszeugnissen angelegt. Der Beitrag zitiert illustrierend aus drei der geführten Interviews und geht auf umstrittene Themen ein, welche von den Zeitzeugen angesprochen wurden. Hier tauchen auch wieder die Tieffliegerangriffe auf. Die Autoren sprechen die Problematik der Glaubwürdigkeit von Zeitzeugenaussagen an, betonen jedoch auch deren Wert für die Geschichtswissenschaft (209). Entsprechend schließt der Band mit einem ausführlichen Erlebnisbericht des 1927 geborenen Götz Bergander, der die große Variation an Beiträgen nicht unpassend abrundet.
Die Arbeit der Historikerkommission stellt ein ganz besonderes Beispiel historischer Forschung dar. Eine jahrzehntelang gesellschaftspolitisch umstrittene Frage konnte hierbei glaubwürdig und abschließend beantwortet werden. Dies ist auch dem interdisziplinären Ansatz zu verdanken, der die Argumentation der Kommission nach allen Seiten hin absichert. Wo klare Antworten nicht möglich waren - etwa bei der Frage nach den Tieffliegerangriffen oder der Betrachtung der Bevölkerungsbilanz - wird dies offen zugegeben. Kritik ist nicht an der Forschungsarbeit sondern allenfalls bei der Publikation selbst vorzubringen. Hier kann man die erwähnte Asymmetrie bei der Präsentation der verschiedenen Ansätze zur Ermittlung der Opferzahlen anführen. Zudem sind einige der Beiträge enorm knapp gehalten und können daher nur ein Schlaglicht auf die einzelnen Teilbereiche werfen. Nicht jeder davon wurde bisher durch Internetpublikationen ausführlicher behandelt. Für die meisten Interessierten wird jedoch ohnehin der erwähnte Abschlussbericht genügen. Was letztlich zählt, ist, dass eine maximale Opferzahl ermittelt werden konnte und in Zukunft nicht mehr anzuzweifeln ist; zumindest für jeden, der wissenschaftlich begründeten Argumenten gegenüber offen ist.
Anmerkungen:
[1] http://www.dresden.de/media/pdf/infoblaetter/Historikerkommission_Dresden1945_Abschlussbericht_V1_14a.pdf [PDF-Dokument] (11.2.2012)
[2] http://www.dresden.de/media/pdf/stadtarchiv/Schnatz_100403.pdf [PDF-Dokument] (11.2.2012)
Fabian Fellersmann