Olaf Jessen: Die Moltkes. Biographie einer Familie, München: C.H.Beck 2010, 477 S., 56 Abb. + 1 Stammtafel, ISBN 978-3-406-60499-7, EUR 22,95
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Es gibt wenige Namen in der deutschen Geschichte, deren Bedeutung über alle Zeiten hinweg den jeweiligen Zeitgenossen klar gewesen ist. Zu diesen Namen gehört neben den Wittelsbachern, den Bismarcks und den Hohenzollern zweifellos der der "Moltkes". Wie nur wenige andere Familien haben deren Angehörige im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte "gemacht". Doch so bekannt einzelne Mitglieder der Familie auch heute noch sind, so schwer dürfte es den meisten Menschen heute fallen, sie korrekt einzuordnen oder deren Verwandtschaftsverhältnisse untereinander zu bestimmen. Wer weiß schon, dass der Chef der Ersten Obersten Heeresleitung, Helmuth von Moltke d.J. "nur" der Neffe des berühmten Siegers von Königgrätz und Sedan, Helmuth Graf von Moltke ist und wie mit diesen der Widerstandskämpfer Helmuth James Graf von Moltke verwandt ist.
Olaf Jessen hat dieses kompliziert erscheinende "Geflecht" in seiner sehr gut lesbaren, gut recherchierten und lehrreichen Biographie einer Familie entwirrt. Auf annähernd 500 Seiten beschreibt er, wer die Moltkes waren. Dabei geht es ihm nicht darum, einfach einzelne Lebenswege nachzuzeichnen. Gleichzeitig will er vielmehr auch den Kontext der Zeit deutlich machen, denn nur so lassen sich manche Lebenswege erklären.
Ausgangspunkt seiner Darstellung ist das Zeitalter der napoleonischen Kriege. Zwei Moltkes - der junge Leutnant Friedrich Franz Graf von Moltke an der Seite des legendären preußischen Husarenmajors Ferdinand von Schills, der Major Friedrich Philipp Victor von Moltke auf Seiten des mit Napoleon verbündeten dänischen Königs - stoßen 1809 in Stralsund aufeinander. Der Sieg des einen ist zugleich die Niederlage des anderen; gleichwohl, dieses eher zufällige Ereignis vermittelt einen kleinen Eindruck von den internationalen verwandtschaftlichen Beziehungen adliger Familien, aber auch der Bedeutung von Loyalität gegenüber dem eigenen König - hier dem dänischen - auf der einen, dem Einfluss des nationalen Gedankens auf der anderen Seite.
In dieser Welt des Wandels bewegen sich die Moltkes; wir finden sie in Kopenhagen, wo ein Teil der Familie eines der prächtigsten Schlösser bewohnt und wo der spätere Sieger von Sedan einen Teil seiner Jugend verbringen wird, in Schleswig-Holstein, in Mecklenburg und in Berlin. Glanz und Elend liegen oft dicht beieinander. Während die einen reich werden, können die anderen mit Geld nicht umgehen, benehmen sich in ihren Familien wie kleine Despoten.
Der Verfasser zeichnet diese Lebenswege mit viel Gespür nach, verknüpft sie wo möglich und wechselt klug die Blickrichtung, um deutlich zu machen, warum manche sich so entwickelten, wie sie es schließlich taten. Dass die bekanntesten Protagonisten der Familie - Helmuth der Ältere und Helmuth der Jüngere sowie Helmuth James - eine etwas herausgehobenere Rolle spielen, liegt auf der Hand. Dennoch, auch die Geschwister des älteren Moltke werden angemessen gewürdigt. Gerade an ihnen lässt sich der Wandel der Zeit in politischer und sozialer Hinsicht nachzeichnen. So ist der Bruder tief geprägt von dem Zwiespalt, einerseits dem dänischen König als dessen Beamter gegenüber loyal sein müssen, sich aber dem Einfluss der immer mächtigen Nationalbewegung, für die die komplizierte Schleswig-Holstein-Frage symbolhaften Charakter hatte, nicht entziehen zu können. Gleiches gilt für die Schwester, die einen reichen englischen Pflanzer geheiratet hatte, am Ende ihres Lebens aber vor dem Nichts stand.
Überhaupt ist es interessant, über die Frauen in der Familie mehr zu erfahren: Moltkes Mutter, seine Schwester und seine Frau - übrigens die Stieftochter seiner Schwester, aber auch die Mutter und die Ehefrau des Widerstandskämpfers, Dorothy - eine in Südafrika geborene Engländerin - und Freya von Moltke. Ihre Leistungen neben bzw. mit ihren Männern können nicht hoch genug geschätzt werden. Sie haben das Familiengut Kreisau zusammengehalten und ihre Männer so gut es ging unterstützt - in guten wie in schlechten Tagen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Kreisau, das Helmuth von Moltke einst mithilfe der Dotation für den Sieg im Krieg von 1866 erworben hatte, seit den 1990er-Jahren nunmehr eine Stätte der Versöhnung ist - der deutsch-polnischen. In gewisser Hinsicht schließt sich hier der Kreis: in der NS-Ära war Hans-Adolf von Moltke der letzte deutsche Botschafter dort, hat nach 1939 - vielleicht entgegen der eigenen Überzeugung - versucht, der polnischen Regierung im Auftrag des Auswärtigen Amts die Schuld am Kriege nachzuweisen.
Alles in Allem handelt es sich um ein sehr lesenswertes Buch, das einen konzisen Einblick in die Geschichte einer Familie und der Zeit die diese einerseits geprägt, die sich in Teilen aber auch mit gestaltet hat.
Michael Epkenhans