Georg Schild / Anton Schindling (Hgg.): Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 55), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2009, 347 S., ISBN 978-3-506-76798-1, EUR 39,90
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Die elf Beiträge des Sammelwerks haben im Wesentlichen drei Funktionen: Sie dokumentieren erstens die Vorträge der im Dezember 2008 veranstalteten offiziellen Abschlusstagung des Sonderforschungsbereichs 437 "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" an der Universität Tübingen und die dort präsentierten Leistungsbilanzen der Projektbereichsleiter; zweitens lassen sie rückblickend die wichtigsten Fragestellungen und Zielsetzungen des zehnjährigen Wirkens dieses SFBs Revue passieren; und drittens verorten sie dessen Genese im Horizont des Zeitgeschehens seit den 1980er Jahren.
Die vorgelegte Bilanz des SFBs ist beachtlich: Die am Ende des Bandes aufgeführte Gesamtbibliografie der Publikationen, die im Zusammenhang des SFBs entstanden sind, umfasst rund vierzig Druckseiten. Beteiligt waren laut Auskunft des Vorworts der Herausgeber Angehörige von insgesamt sieben Fakultäten der Universität Tübingen, und man wird dem Sammelband guten Gewissens bescheinigen können, dass er ein Beispiel für ertragreich praktizierte Interdisziplinarität ist, was sich besonders augenfällig in dem Beitrag von Niels Birbaumer zur Neurogeschichte von Gewalt und Kriegserfahrung zeigt.
Es ist das Verdienst des SFBs, einen primär wissenssoziologisch geprägten Erfahrungsbegriff als analytische Kategorie erfolgreich zur Anwendung gebracht zu haben. Es ging den Initiatoren eben nicht darum, im Hinblick auf Kriegserfahrungen darzustellen, "wie es eigentlich gewesen ist". Erforscht werden sollte vielmehr, so Dieter Langewiesche, einer der Initiatoren des SFBs, "wie aus bestimmten Perspektiven, von bestimmten Personen und Gruppen der Krieg wahrgenommen und zu Erfahrungen verarbeitet worden ist, wie sie weitergegeben wurden, welche Deutungsinstitutionen daran beteiligt waren, und immer auch: wie sich diese Wahrnehmungen und Erfahrungen verändert haben [...]" (228).
Dieser konstruktivistische, die Wahrnehmungsebene betonende Ansatz war letztlich, wie die Ausführungen von Anselm Doering-Manteuffel über die Entstehungsgeschichte des SFBs zeigen, Ausdruck und Resultat der dynamischen Forschungsentwicklung der 1980er und 1990er Jahre. Während um das Jahr 1980 bekanntlich der Übergang von der Sozialgeschichte zu alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen einsetzte und sich Forschungstendenzen zu etablieren begannen, die man - nicht zuletzt auch im Hinblick auf das Thema "Krieg" - schlagwortartig als Geschichtsbetrachtung "von unten" zu bezeichnen pflegt, erfolgte in den 1990er Jahren der Paradigmenwechsel zur Kriegskultur-Analyse. Diese Prozesse bildeten den forschungsgeschichtlichen Hintergrund der inhaltlichen, methodischen und theoretischen Konzeptionen des SFBs, der seit 1999 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für insgesamt zehn Jahren gefördert wurde.
Dies alles erfolgte vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kriegserfahrungen auch und gerade durch das europäische Zeitgeschehen der 1990er Jahre eine neue, bedrückende Dimension erhielt. Denn der Jugoslawienkrieg, so Doering-Manteuffel, bedeutete einen Tabubruch, da er das nach 1945 Undenkbare Realität werden ließ: einen Krieg in Europa. Man komme nicht umhin, führt er weiter aus, "diesen Sachverhalt drastisch, ja zynisch zu akzentuieren: Seit 1991/92 war der Krieg nicht nur wieder da, sondern Krieg war jetzt schick, weil in den westlichen Wohlstands- und Konsumgesellschaften die Erfahrung eines Kriegserlebnisses vollständig fehlte" (283).
Die nicht nur, aber doch in besonderem Maße aus den Ereignissen im vormaligen Jugoslawien resultierende starke mediale Präsenz des Themas "Krieg" in den europäischen Öffentlichkeiten führte gleichwohl ebenso wenig wie das Geschehen des 11. September 2001 zu einer Veränderung der ursprünglich anvisierten und dann auch umgesetzten Grundausrichtung des SFBs. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses blieb der Typus des "gehegten Krieges", wie er in der Erscheinungsform von Nationen- oder Staatenkriegen insbesondere für das 19. und frühe 20. Jahrhundert charakteristisch war.
Die Beiträge des Sammelbands lassen insgesamt gesehen die große inhaltliche Bandbreite der Ergebnisse des SFBs erkennen. Einige Aufsätze befassen sich explizit mit Bildquellen, vor allem Anton Schindlings einführender, sehr schön bebilderter Essay zu imaginierten Kriegserfahrungen von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, ferner Horst Tonns anregende Untersuchung zur Medialisierung von Kriegserfahrungen (unter Einbeziehung künstlerischer Medien) sowie die Ausführungen von Martin Zimmermann über den Umgang mit Kriegserfahrungen in der Antike (mit Abbildungen von Details der Traianssäule). Darüber hinaus finden sich zum Teil umfangreiche Beiträge über Kriegserfahrungen in den Kontexten von Religion (Andreas Holzem), Humanwissenschaften (Reinhard Johler), Wissenschaften und Technik (Anselm Doering-Manteuffel) sowie Grenzen beziehungsweise Grenzerfahrungen (Dietrich Beyrau); auf die verhaltensneurobiologischen Aspekte des Themas in dem Aufsatz von Niels Birbaumer wurde bereits hingewiesen.
Dieter Langewiesche, der ebenso wie Anselm Doering-Manteuffel im vorliegenden Band mit zwei Aufsätzen vertreten ist, widmet sich zum einen den komplexen Zusammenhängen von Nation, Imperium und Kriegserfahrungen und erörtert zum anderen die Frage, inwiefern es seine Berechtigung habe, die Kriege der jüngeren Zeit als "Neue Kriege" zu bezeichnen. Er gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass diese sogenannten "Neuen Kriege", für die unter anderem die gänzliche Missachtung der Regularien des "gehegten Krieges" kennzeichnend sei, faktisch eine Rückkehr zur traditionellen Idee des "gerechten Krieges" bewirkt hätten, eine Idee, die nunmehr mit dem erklärten Ziel einer Wahrung der Menschenrechte durch humanitären Interventionismus legitimiert werde. Dass damit brandaktuelle Fragen berührt sind, die weit über die bloße Ebene wissenschaftlicher Forschung hinausgehen, ist unverkennbar.
In der Summe wird man festhalten können, dass es dem Sammelband gelungen ist, die Leistungen des SFBs in einer bilanzierenden und zugleich perspektivenreichen Art und Weise darzulegen, die den gewählten Untertitel "Neue Horizonte der Forschung" als vollauf gerechtfertigt erscheinen lässt.
Michael Rohrschneider