Matthias Waechter: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre (= Studien der Helmut und Loki Schmidt-Stiftung; Bd. 6), Bremen: Edition Temmen 2011, 168 S., ISBN 978-3-8378-2010-2, EUR 14,90
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Die links- wie rechtsrheinisch häufig thematisierte Kooperation zwischen Helmut Schmidt und dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing unterzieht Matthias Waechter in seiner jüngsten Monographie einer erneuten Untersuchung. Der Untertitel Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre lässt auf die Analyse eines spannenden, historiographisch kaum beleuchteten Aspekts der deutsch-französischen Beziehungen hoffen, nämlich auf die ökonomischen Verwerfungen der 1970er Jahre als Bestimmungsfaktor dieses bilateralen Verhältnisses.
Selbsterklärtes Ziel der Untersuchung ist es, "Handlungsspielräume und Zwangslagen", innerhalb derer sich Schmidt und Giscard bewegten, zu erforschen und dabei heute weitgehend zugängliche Archivquellen zu nutzen (16). Der Verfasser wählt hierzu eine dreiteilige Gliederung, die zunächst die Biographien der beiden großen Staatslenker in den Blick nimmt, sich im Anschluss ihrer Zusammenarbeit während ihrer Kanzlerschaft bzw. Präsidentschaft widmet und abschließend einige Divergenzen thematisiert.
Unter der Überschrift "Parallele Leben? Eine biographische Annäherung" beschäftigt sich das erste Kapitel mit den Lebensläufen der beiden Hauptprotagonisten bis zum Frühjahr 1974 und nimmt damit den Grundtenor der gesamten Untersuchung vorweg: Schmidt und Giscard verband eine enge persönliche Freundschaft; die Geschichte ihrer Zusammenarbeit ist die Geschichte eines beispiellos erfolgreichen Tandems. So wird den Übereinstimmungen in Waechters Analyse durchweg größerer Raum gewährt als den Divergenzen. Zwar wird eingeräumt, dass Schmidt und Giscard mitnichten aus ähnlichen Verhältnissen stammen - die bescheidene Lebensweise der Schmidts kann schließlich mit dem großbürgerlichen Lebensstil der Giscards kaum ernsthaft verglichen werden -, doch ordnet der Autor diese Unterschiedlichkeiten den Gemeinsamkeiten in den Werten, die die beiden Elternhäuser ihren Sprösslingen vermitteln, unter. Die moralischen Grundüberzeugungen Schmidts und Giscards rückt der Verfasser in den Vordergrund und konstruiert so, recht gewagt, "parallele Leben". Ein besonderes Augenmerk legt er auf die Karrieren der beiden Politiker, wobei er sich als profunder Kenner der französischen Parteienlandschaft erweist. Insbesondere der Gaullismus, den er bereits in einer früheren Veröffentlichung zum Thema gemacht hat [1], und die deutliche Distanz, die Giscard als "Gelegenheitsgaullist" (31) zu selbigem wahrte, wird in seiner prägenden Wirkung auf die französische Innen- wie Außenpolitik der Fünften Republik eingehend besprochen. Inwiefern der Gaullismus bzw. Giscards Versuch, sich von dieser Ideologie zu distanzieren, tatsächlich ausschlaggebend für sein Verhältnis zum deutschen Nachbarn war und damit für den Untersuchungsgegenstand relevant ist, bleibt jedoch weitgehend offen.
Der Kooperation zwischen den beiden Staatsmännern während ihrer Amtszeit ist der Hauptteil der Untersuchung gewidmet. Nachdem der Autor bereits darauf hingewiesen hat, dass sich Schmidt und Giscard erstmals in dem von Jean Monnet gegründeten "Comité d'Actions pour les États-Unis de l'Europe" begegnet sind, verwundert es nicht, dass der Fokus der analysierten Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene liegt - wohl auch, weil Schmidt und Giscard hier am erfolgreichsten zusammenspielten. Ihr enger persönlicher Kontakt wird dabei besonders betont und als Spezifikum im Vergleich zu anderen bilateralen Verhältnissen fortwährend hervorgehoben. Von der Schaffung des Europäischen Rats 1974 und dem Weltwirtschaftsgipfel 1975 über die Errichtung des Europäischen Währungssystems 1978/79 bis hin zur Durchführung der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 zeichnet der Autor die weitgehend bekannte Erfolgsgeschichte der deutsch-französischen Kooperation in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nach.
Im dritten und letzten Teil seiner Untersuchung skizziert der Verfasser Divergenzen in den deutsch-französischen Beziehungen, welche er vor allem im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausmacht. Die Stationierung von Pluton-Kurzstreckenraketen im Nordosten Frankreichs 1974, Irritationen über die französische Interpretation des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 sowie Frankreichs Ausscheren aus der Reihe der Befürworter des Olympiaboykotts 1980 als Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan werden hierfür als Beispiele herangezogen. Eine eingehende Analyse der Hintergründe für die unterschiedlichen Haltungen Schmidts und Giscards bleibt allerdings aus. Das traditionelle Unabhängigkeitsstreben Frankreichs wird oftmals als einziger Grund angeführt (135).
So fasst Matthias Waechters Untersuchung den gegenwärtigen Forschungsstand weitgehend zusammen und ergänzt ihn durch einige interessante Details zur französischen Parteiengeschichte, welche die Handlungsspielräume Giscards in der Tat in ihrer Begrenztheit verdeutlichen, die bisherige Forschung auf diesem Gebiet allerdings nicht in Frage stellen. Dass der Autor in seinem letzten Kapitel "Grenzen der Konvergenz" (124) hinter den gegenwärtigen Forschungsstand zurückfällt, zeigt die nur angerissene Behandlung größerer Streitthemen wie z.B. die Be- bzw. Verurteilung der deutschen Anti-Terror-Politik durch die französischen Medien oder die unterschiedlichen Haltungen der deutschen und der französischen Öffentlichkeit zum Thema Kernenergie. Dieser Mangel erklärt sich zum Teil aus Waechters methodischem Ansatz: Obgleich der Verfasser in seiner Einleitung verspricht, nicht einfach die Geschichte zweier großer Staatsmänner zu schreiben - wie es unter Historikern ja schon lange als obsolet gelte (18) -, relativiert er diese Haltung wenige Seiten später mit dem Hinweis auf die Machtstellung der beiden Protagonisten in den jeweiligen Regierungssystemen (51). Was folgt, ist eine stark personalisierte Betrachtung, die zunehmend innenpolitische Entwicklungen als Bestimmungsfaktor der Außenpolitik aus dem Blick verliert - ein Umstand, der im Falle der Bundesrepublik systembedingt schwerer wiegt als im Falle Frankreichs, wo der Staatspräsident in der Tat die Außenpolitik als seine "domaine réservé" behandeln kann.
Insgesamt machen jedoch die profunden Kenntnisse des Autors zur französischen Parteienlandschaft sowie der primär biographische Ansatz, der unter anderem auf einem intensiven Studium der Publikationen der beiden Hauptprotagonisten beruht, das jüngste Buch von Matthias Waechter zu einer durchaus lesenswerten Lektüre - wenngleich das Quellen- und insbesondere das Archivstudium auf linksrheinischer Seite vergleichsweise überschaubar ist. Der Leser vermisst zwar eine engere inhaltliche Rückkoppelung zum Untertitel, er findet jedoch einen guten Überblick über die deutsch-französischen Beziehungen der 1970er Jahre, taucht tief in die Gedankenwelt zweier großer Staatsmänner ein und erfreut sich am umfangreichen, mit Bedacht ausgewählten Fotomaterial.
Anmerkung:
[1] Vgl. Matthias Waechter: Der Mythos des Gaullismus. Heldenkultur, Geschichtspolitik und Ideologie 1940-1958, Göttingen 2006. Rezension von Claudia Moisel, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5; URL: http://www.sehepunkte.de/2007/05/11610.html
Verena Sattler