Matthias Waechter: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert (= Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), München: C.H.Beck 2019, 608 S., 2 Kt., ISBN 978-3-406-73653-7, EUR 34,00
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Das Europäische an Europa seien die Nationen, beteuerte der Historiker Hermann Heimpel 1953 [1]. In der Tat: Wer die Geschichte Europas des 20. Jahrhunderts begreifen will, darf die je nationalen Eigenarten der europäischen Staaten nicht ignorieren. Freilich reicht der nationale Rahmen zu ihrem Verständnis kaum aus, lässt sich manches Phänomen doch nur in einer gesamteuropäischen Dimension erfassen. In diesem Sinne erzählt die von Ulrich Herbert herausgegebene Reihe "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert" die Geschichten der europäischen Länder "je für sich, aber zugleich im Kontext der europäischen Entwicklung und der globalen Verflechtungen". Allen Bänden liegt eine gemeinsame Struktur zugrunde, die die diachrone Erörterung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen mit ausgewählten Querschnittsschilderungen verbindet, die "Zustand und Zustände in der jeweiligen Gesellschaft synchron darzustellen und dadurch dem Vergleich mit anderen Ländern zu öffnen" versuchen (8). In Konkurrenz zur dominierenden These von Eric Hobsbawm definiert die Reihe das 20. Jahrhundert nicht als ein "kurzes", sondern als "langes" Säkulum (9), indem sie sowohl die beiden Jahrzehnte vor 1914 als auch jene nach 1990 in die Darstellung einbezieht.
Für die Beschreibung der Geschichte Frankreichs hat der Herausgeber mit Matthias Waechter einen einschlägig ausgewiesenen Fachmann gewonnen, der das "Centre international de formation européenne" in Nizza leitet und durch Publikationen über den Gaullismus [2] und das "Tandem" zwischen Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing [3] auf sich aufmerksam gemacht hat.
Ausgehend von den Kindertagen der dritten französischen "Republik der Widersprüche" um 1880 (17), schildert der Autor Frankreichs 20. Jahrhundert vom Integrationsschub im gewonnenen Ersten Weltkrieg und dem "prekäre[n]" (152), dann "verlorenen Frieden" (113) mitsamt der turbulenten Zwischenkriegszeit und dem "Höhepunkt des französischen Imperialismus" (170) über die "tiefe Zäsur" der "katastrophalen Niederlage des Sommers 1940" (14), dem schwierigen Wiederaufbau nach der Gründung der Vierten Republik und dem Schlüsseljahr 1958 mit der Bildung der Fünften Republik durch Charles de Gaulle bis hin zu der Machtübernahme der Sozialisten unter François Mitterrand 1981 und dem Weg zur "verunsicherte[n] Nation" der Gegenwart (429). Im letzten Kapitel bietet Waechter einen "Ausblick" (502) genannten Schnelldurchlauf durch die Entwicklung Frankreichs seit der Jahrtausendwende, den er etwas unvermittelt mit der Frage beendet, ob Emmanuel Macrons Machtübernahme geeignet sei, "die tief gespaltene französische Gesellschaft zu vereinen" (516).
Als "Leitlinien" seiner Darstellung bezeichnet der Autor "die mühevolle Nationsbildung im späten 19. Jahrhundert, das sich immer wieder neu stellende Problem der Integration einer heterogenen Gesellschaft, die zentrale Bedeutung des Kolonialreichs und der Dekolonisierung, Frankreichs zwiespältiges Verhältnis zur europäischen Integration" sowie die "kardinale Rolle der Jahre 1940-45" (15). Entschieden wendet sich Waechter gegen das von de Gaulle geprägte Geschichtsbild vom "30-jährigen Krieg" von 1914 bis 1945 (113), durch das die Zwischenkriegsjahre seines Erachtens "wie ein bloßes Intermezzo" erscheinen (114). Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags am 22. Juni 1940 sei ein "Schlüsselereignis" eingetreten, ohne dessen Hintergrund die Neuordnung nach der Befreiung, die Option für die europäische Einigung und der Regimewechsel 1958 "nicht verstehbar" seien (225).
Nicht mit diesem Regimewechsel, sondern mit dem Ende des Kolonialreiches und der Einführung der Direktwahl des Präsidenten 1962 beginnt Waechter zufolge das zeitgenössische Frankreich. Die Machtübernahme Mitterrands 1981 führte sodann aus seiner Sicht zur Begründung einer "Republik der Mitte" (433) und zum "Ende des 'französischen Exzeptionalismus'" in staatlicher wie gesellschaftlicher Hinsicht (445).
Für die deutsche Historiographie ist die französische Zeitgeschichte kein bevorzugtes Forschungsfeld. Fast dreißig Jahre dauerte es, bis ein Autor nach dem Erscheinen des Werkes von Wilfried Loth [4] es wagte, eine neue Gesamtdarstellung über die Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert zu verfassen. Wie der Reihenherausgeber in seinem Vorwort zu Recht darlegt, erforderte das Unterfangen "einen gewissen Mut" (8). Manchen Aspekt wird der Leser in Waechters Darstellung vergeblich suchen und mit einigen Urteilen auch nur sehr bedingt einverstanden sein. Etwas zu optimistisch klingt etwa die Feststellung, dass "Vichy" heute "längst kein 'Tabu' mehr" und die französische Gesellschaft "weit davon entfernt" sei, "die Rolle der Résistance überzubewerten" (499). Auf Kritik stoßen wird auch Waechters wohlwollende Meinung über Mitterrands Haltung zur deutschen Frage 1989/90. Doch trotz derartiger Ausstellungen kann es keinen Zweifel am Gesamturteil über Waechters Werk geben: Wer sich mit der Zeitgeschichte unseres Nachbarlandes auseinandersetzen möchte, wird fortan an seiner souveränen, profunden und erhellenden Darstellung nicht vorbeikommen.
Anmerkungen:
[1] Hermann Heimpel: Entwurf einer deutschen Geschichte. Rektoratsrede vom 9. Mai 1953, in: ders.: Der Mensch in seiner Gegenwart. Acht historische Essays, 2. Aufl., Göttingen 1957, 162-195, 173.
[2] Matthias Waechter: Der Mythos des Gaullismus. Heldenkult, Geschichtspolitik und Ideologie 1940 bis 1958, Göttingen 2006. Vgl. hierzu die Rezension in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5
[3] Matthias Waechter: Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing. Auf der Suche nach Stabilität in der Krise der 70er Jahre, Bremen 2011. Vgl. hierzu die Rezension in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1
[4] Wilfried Loth: Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1992.
Ulrich Lappenküper