Rezension über:

Stuart J. Hilwig: Italy and 1968. Youthful unrest and Democratic Culture, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, X + 185 S., einige s/w-Abb., ISBN 978-0-230-57568-4, GBP 52,00
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Rezension von:
Anne Rohstock
Université du Luxembourg
Empfohlene Zitierweise:
Anne Rohstock: Rezension von: Stuart J. Hilwig: Italy and 1968. Youthful unrest and Democratic Culture, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 [15.02.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/02/20606.html


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Stuart J. Hilwig: Italy and 1968

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Vor rund zwölf Jahren identifizierte die italienische Soziologin Donatella della Porta eine Italien und die Proteste des Jahres 1968 betreffende Forschungslücke: Viel zu wenig Aufmerksamkeit habe die Geschichtswissenschaft bislang der Reaktion des italienischen "Establishments" - insbesondere Polizei und Politik - auf die studentischen Unruhen jenes Jahres gewidmet. Hier sei viel nachzuholen. [1] Mit seiner erfreulich schmalen, flott geschriebenen Monographie Italy and 1968 hat der amerikanische Geschichtsprofessor Stuart J. Hilwig die von della Porta konstatierte Forschungslücke 2009 weitgehend geschlossen.

Hilwig hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Leser am Beispiel der norditalienischen Stadt Turin in Sicht- und Handlungsweise der von "1968" zum Gegenspieler erklärten Institutionen und Personenkreise einzuführen: Politik, Universität, Polizei, Kirche und Medien. Dass seine Darstellung dabei über das sogenannte Establishment hinausgeht, zeigt die Tatsache, dass Hilwig die Reaktionen innerhalb der Arbeiterschaft des Turiner Autobauers FIAT auf die Provokationen der Studenten ebenso mit einbezieht wie die ihrer Eltern und der "einfachen Bürger" der piemontesischen Stadt. Damit will Hilwig einen dreifachen Beitrag zur Erforschung von "1968" leisten: Erstens versucht er, die Protestgeschichte aus ihrer bisherigen Konzentration auf die Aktivisten zu lösen; zweitens ist es ihm um einen konsequent lokalgeschichtlichen Zuschnitt seines Beitrags zu tun, und drittens soll seine Untersuchung eine medienhistorische Einordnung des Phänomens "1968" befördern. Dafür erschließt Hilwig neue Quellen wie Parlamentsdebatten und Polizeiberichte, Senatsprotokolle der Universität sowie journalistische Zeugnisse (inklusive visueller Quellen) aus politisch so unterschiedlichen Zeitungen wie den katholisch-konservativen Blättern "La Stampa" und "Corriere della Sera" oder der kommunistischen "l'Unità". Zudem setzt er auf die Befragung von Zeitzeugen: Mehr als 20 Interviews hat Hilwig zwischen 1997 und 2008 mit Aktivisten, Professoren, Politikern, Kirchenmännern, Journalisten und Arbeitern geführt.

Die Ergebnisse können sich sehen lassen: So kann Hilwig zeigen, dass die italienischen Reaktionen auf "1968" weniger monolithisch waren als die Forschung bislang angenommen hat. Für die meisten vermutlich überraschend: Die Arbeiter von FIAT waren weder die einzigen noch die enthusiastischsten Befürworter der Studentenrevolte. Innerhalb der Professorenschaft, der Polizei und der Kirche gab es ebenso eindeutige, zum Teil sogar stärkere Solidaritätsbekundungen (79). Die Professoren der Turiner Universität etwa waren keineswegs einhellig gegen die Studenten eingestellt, sondern in Fraktionen gespalten. Zwar unterstützten nur wenige Gelehrte ihre Schüler offen (49, 53), aber ebenso wenige riefen nach einer Politik der harten Hand und befürworteten Polizeieinsätze (35 f.). Die größte Gruppe sah die Provokationen entspannt und ließ sich sogar auf im internationalen Vergleich sehr weitgehende Zugeständnisse an die revoltierenden Studenten ein (51). Das Gleiche gilt für die Polizei: Neben Beamten, die zur Niederschlagung der Proteste am liebsten wieder eine faschistische Diktatur gehabt hätten, standen Polizisten, die mit den Studenten sympathisierten. Ähnlich wie in Frankreich warnten sie die Aktivisten vor bevorstehenden Polizeieinsätzen oder rieten ihnen, Motorradhelme zu tragen, um sich vor möglichen Verletzungen zu schützen und unerkannt zu bleiben (61 f.).

Als besonders tragfähig erweist sich der lokalgeschichtliche Ansatz der Studie, den Hilwig immer wieder national und international zu weiten weiß. So gerät einerseits das große Ganze nicht aus dem Blick (18, 35), andererseits erfasst Hilwig auf diese Weise auch italienische und Turiner Eigenheiten. Überzeugend legt der Autor etwa dar, dass die innerfamiliäre Konfrontation aufgrund der rigideren Moralvorstellungen in Italien heftiger ausgefallen sei als in den USA und einigen westeuropäischen Ländern (28). Auch die zunächst auf rein interne Disziplinierungen ausgerichteten Maßnahmen der Universität gegen studentische Aktivisten lassen sich Hilwig zufolge lokalgeschichtlich begründen: Die Klientel der Hochschule rekrutierte sich im Wesentlichen aus Söhnen und Töchtern angesehener Turiner Familien, die kein Interesse an der öffentlichen, strafrechtlichen Verfolgung ihrer Kinder gehabt hätten (44, 50). Und schließlich sei die Rolle der piemontesischen Kirche bei den "68er"-Tumulten eine spezielle gewesen; sie habe ihre eigene Parallelbewegung zur Studentenrevolte gehabt. Der Erzbischof von Turin etwa, Don Pellegrino, unterstützte junge Männer bei der Wehrdienstverweigerung und ermunterte sie, sich für Reformen einzusetzen (77).

Leider überstrapaziert Hilwig aber das vermeintliche Alleinstellungsmerkmal seines Buches: So neu, einzigartig und methodisch innovativ, wie das immer wieder behauptet wird, ist seine verdienstvolle Studie nicht. Zum einen haben sich Forscher auf der ganzen Welt mittlerweile regional- und lokalgeschichtlichen Aspekten von "1968" zugewandt. [2] Zum anderen unterschlägt Hilwig eine Vielzahl neuerer Literatur zum Thema und verkennt so, dass die Historisierung von "1968" im europäischen und amerikanischen Kontext sehr viel weiter fortgeschritten ist als er annimmt. Die Konzentration der Forschung auf die Aktivisten oder das Jahr 1968 mag für Italien zutreffen, namentlich für die USA und Westdeutschland gilt das aber nicht. Hier hat man sich bereits seit geraumer Zeit den Entstehungsbedingungen sowie den Folgen und Wirkungen von "1968" in einem zeitlich viel weiter gesteckten Rahmen zugewandt. [3] So ist es eher Hilwigs Ansatz, der konventionell bleibt: Zwar ordnet er die Proteste der späten 1960er Jahre in eine "Vorgeschichte" ein, die er etwa 1965 beginnen lässt, stellt diese aber nur sehr lückenhaft dar; über Folgen und Wirkungen der "Unruhe" kann er aufgrund der zeitlichen Beschränkung seiner Studie wenig sagen. So kommt die Darstellung über unmittelbare Reaktionen von Staat und Gesellschaft auf das italienische "1968" nicht hinaus. Das ist schade, aber immerhin ein Anfang.


Anmerkungen:

[1] Donatella Della Porta: Le Mouvement édutiant et l'ètat en italie: l'escalade de la violence, in: Les Années 68. Le temps de la contestation, hg. von: Geneviève Dreyfus-Armand / Robert Frank / Marie-Françoise Lévy / Michelle Zancarini-Fournel, Brüssel 2000, 423-441, hier 430.

[2] Vgl. den Literaturüberblick von Philipp Gassert: Das kurze "1968" zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur: Neuere Forschungen zur Protestgeschichte der 1960er-Jahre, in: H-Soz-u-Kult (30.4.2010), (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-04-001).

[3] Vgl. den Literaturbericht von Patrick Bernhard / Anne Rohstock: Writing about the "revolution". Nuovi studi internazionali sul movimento del '68, in: Ricerche di Storia Politica, 11 (2008), 177-192.

Anne Rohstock