Rezension über:

Michael Sutton: France and the Construction of Europe, 1944-2007. The Geopolitical Imperative (= Berghahn Monographs in French Studies), New York / Oxford: Berghahn Books 2011, XIV + 366 S., ISBN 978-0-85745-290-0, GBP 21,00
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Rezension von:
Guido Thiemeyer
Cergy-Pontoise
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Guido Thiemeyer: Rezension von: Michael Sutton: France and the Construction of Europe, 1944-2007. The Geopolitical Imperative, New York / Oxford: Berghahn Books 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 [15.02.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/02/20676.html


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Michael Sutton: France and the Construction of Europe, 1944-2007

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Bevor Michael Sutton 1995 eine Professur an der Aston University übernahm, arbeitete er zwischen 1973 und 1993 als Journalist in Brüssel und berichtete von dort über die Europäische Gemeinschaft für verschiedene englische Zeitungen, unter anderem den Economist. Seine Darstellung der französischen Europapolitik zwischen 1944 und 2007 basiert also zumindest teilweise auf eigener Erfahrung. Gleichwohl sind es keine klassischen Memoiren, die hier vorliegen, der Autor bemüht sich um eine Interpretation und Erklärung der französischen Außen- und Europapolitik vom Zweiten Weltkrieg bis zur Europäischen Währungsunion. Das vorliegende Buch ist die unveränderte Paperback-Ausgabe der bereits 2007 erschienenen Darstellung.

Dreh- und Angelpunkt der französischen Europapolitik, so zeigt sich Sutton überzeugt, war Charles de Gaulle. Sein Regierungsantritt im Jahre 1958 ist daher aus dieser Perspektive auch der entscheidende Wendepunkt in der französischen Außen- und Europapolitik. Zwar war es Zufall, dass gleichzeitig auch die Römischen Verträge in Kraft traten, aber auch dies passt in Suttons Interpretation. De Gaulle habe die europäische Einigung geprägt wie keine andere Persönlichkeit. Entscheidend war aus dieser Sicht, dass der General zunächst die supranationale Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als Basis der Europapolitik akzeptierte, obwohl er das zu Grunde liegende Prinzip ablehnte. Auch wenn sein Alternativkonzept einer engen politischen Kooperation unter französischer Führung mit den Fouchet-Plänen Anfang der 1960er Jahre scheiterte, so setzten sich doch langfristig, so Sutton, die Kerngedanken der gaullistischen Europa-Konzeption durch. Das galt für die Gründung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs in den 1970er Jahren, es galt für die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik, die de Gaulle unterstützte, und es galt für die Struktur des Vertrages von Maastricht.

Es galt aber in besonderem Maße für die besonderen Beziehungen Frankreichs zu Deutschland, die in der Interpretation von Sutton ebenfalls auf de Gaulle zurückzuführen sind. Der Elysée-Vertrag von 1963 habe das deutsch-französische Sonderverhältnis begründet, das bis heute andauere. Allerdings habe sich die Rolle Deutschlands geändert. 1963 sei die Bundesrepublik noch wenig einflussreich im Vergleich zur Atom- und Siegermacht Frankreich gewesen; de Gaulle sei immer davon ausgegangen, dass Frankreich die natürliche Hegemonie auf dem Kontinent zukomme. Dies habe sich mit den wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik in den 1970er Jahren geändert: Deutschland sei zunächst gleichberechtigt gewesen und habe mit der Vereinigung von 1990 sogar ein Übergewicht bekommen. Aber auch wenn sich die Rahmenbedingungen änderten, sei die französische Deutschlandpolitik im Kern gleich geblieben. Georges Pompidou, Valéry Giscard d´Estaing und selbst François Mitterrand hätten dieses Konzept beibehalten und lediglich den veränderten Bedingungen angepasst. Auf die Kontroverse um die Rolle Mitterrands im Kontext der deutschen Vereinigung in den Jahren 1989/90 geht Sutton nicht explizit ein.

Die Lösung der deutschen Frage ist aus dieser Perspektive daher auch der Kern der französischen Europapolitik. Die europäische Konstruktion, so Sutton, diene Frankreich vorrangig dazu, ein stabiles und berechenbares Verhältnis zum deutschen Nachbarn zu garantieren. Die geopolitische Perspektive (im englischen Sinne des Wortes) habe die französische Europapolitik seit 1948 bis ins Jahr 2007 geprägt. Wirtschaftliche Argumente hätten in diesem Kontext eine untergeordnete Rolle gespielt. Entschieden weist Sutton daher auch die Interpretation Andrew Moravcsiks zurück, der die zentralen Motive für die europäische Integration für Frankreich auf dem wirtschaftlichen Sektor, insbesondere in der Agrarpolitik fand. [1] Europäische Integration werde geprägt von der "großen Politik" und nicht von wirtschaftlichen Akteuren. Überhaupt spielt die innenpolitische Dimension außenpolitischer Entscheidungen bei Sutton eine sehr untergeordnete Rolle.

Die Darstellung ist chronologisch gegliedert. Sutton beschreibt die wesentlichen Schritte französischer Europapolitik detailliert und insgesamt kenntnisreich. Als Grundlage mag ihm der Zettelkasten des Journalisten gedient haben, zitiert werden vorzugsweise Memoiren der wichtigsten Akteure. Einschlägige Quellenpublikationen und die wissenschaftliche Fachliteratur werden nur selten herangezogen. Das führt dazu, dass Sutton nicht immer auf der Höhe des Forschungsstandes ist. Dies gilt für die Genese des Schuman-Planes ebenso wie für die Darstellung des Elysée-Vertrags.

Fragen ergeben sich auch hinsichtlich der Methode. Ist es wirklich möglich, die französische Europapolitik in derart einseitiger Weise auf das Handeln von einzelnen Persönlichkeiten zurückzuführen? Von seiner Bewunderung für das politische Genie de Gaulles macht Sutton kein Hehl, aber lässt sich Europapolitik in dieser Weise personalisieren? Damit soll nicht bestritten werden, dass einzelne Persönlichkeiten großen Einfluss auf außenpolitische Entscheidungen in Frankreich hatten, aber selbst de Gaulle oder Mitterrand agierten nicht in einem politischen Vakuum. Hier ist die Geschichte der internationalen Beziehungen methodisch inzwischen doch um einiges vorangeschritten.


Anmerkung:

[1] Andrew Moravcsik: The Choice for Europe. Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht, Ithaca 1998.

Guido Thiemeyer