Rezension über:

Marco Hofheinz / Wolfgang Lienemann / Martin Sallmann (Hgg.): Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins (= Reformed Historical Theology; Vol. 9), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 386 S., ISBN 978-3-525-56919-1, EUR 79,95
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Rezension von:
Klaus Unterburger
Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Unterburger: Rezension von: Marco Hofheinz / Wolfgang Lienemann / Martin Sallmann (Hgg.): Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/03/20357.html


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Marco Hofheinz / Wolfgang Lienemann / Martin Sallmann (Hgg.): Calvins Erbe

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Der Sammelband möchte, ausgehend von einer interdisziplinären Seminarveranstaltung der theologischen Fakultät Bern, den Spuren von Calvins Theologie "in der Geistes- und Kulturgeschichte Westeuropas und Nordamerikas" nachgehen. Eine erste Sektion verfolgt die theologische Rezeption spezifischer Themen Calvins, eine zweite versucht seinen Einfluss eher "geistesgeschichtlich" zu fassen.

Einen gewissen Schwerpunkt bilden die Ekklesiologie und die damit in Zusammenhang stehende Lehre vom dreifachen Amt Christi. Der unsichtbaren Kirche der Erwählten, so Matthias Freudenberger, sollte ihre äußere Gestalt mit Konsistorium und Kirchenzucht, die ein Leben der Gemeinde nach dem Gesetz Christi garantieren sollten, entsprechen; das konsistoriale Kirchenmodell wirkte über Frankreich auf die Niederlande und Schottland, aber auch auf die Kurpfalz, fortgeschrieben in Wesel und Emden.

Noch die Barmer Theologische Erklärung 1934 maß der kirchlichen Ordnung Zeugnischarakter bei. Gerade die Lehre vom dreifachen Amt Christi, die Person und Werk zusammenhält, hat nach Georg Plasger auf Karl Barth gewirkt, denn durch sie wurde es ihm möglich, die Zwei-Naturen-Lehre des Chalcedonense als geschichtliches Handeln Gottes zu übersetzen (Priester: der Herr wird Knecht, Hirt: der Knecht wird Herr, Prophet: der Mittler ist auch Bürge). Die Rezeption des munus propheticum vor der Aufklärung behandelt Marco Hofheinz: Gegen den Vorwurf, Calvin habe durch ein prophetisches Wächteramt eine unheilvolle Tradition nicht rational legitimierter kirchlich-klerikaler ethischer Imperative begründet, zeigt er, dass Calvin und Bullinger das Prophetenamt Christi auf die Schriftauslegung (und das Pfarramt) limitierten und nicht Herrschaftskritik theologisch verbrämten. Die Ämter der Kirche können aus den Ämtern Christi nicht differenzlos abgeleitet werden. Die reformierte Orthodoxie übernimmt dies.

Eberhard Busch geht in seinem Beitrag der Lehre vom Gnadenbund Gottes, der einseitig von Gott ausgeht, aber auf Zweiseitigkeit hin angelegt ist, in der Föderaltheologie des 17. Jahrhunderts nach und konstatiert, dass aus dem Leitbegriff hier ein theologiekonstituierendes Prinzip wurde, nach dem das Offenbarungshandeln Gottes sich sukzessive entfaltet habe. Ein Bruch geschah, als mit Semler und Lessing daran anknüpfend die zunehmende Fassungsgabe des Menschen der Maßstab der Geschichte geworden ist und die Zeiten nicht mehr auf Christus als Mittelpunkt hin gedeutet wurden.

Obwohl sich die reformierte Tradition im 20. Jahrhundert, so Ilka Werner, überwiegend von Schleiermacher abgesetzt hat, hat dieser selbst sich affirmativ in die Tradition Calvins gestellt und nicht nur die Methode der Institutio und ihre Akkomodation an die Fragen der Leser gelobt, sondern auch ihre Entsprechung zum christlichen Grundgefühl, das naturalistisch nicht ableitbar ist. Ja der sensus divinitatis in Inst. I,3,1 präfiguriert auf gewisse Weise bereits die Lehre von der Religion als unableitbarer Provinz im menschlichen Gemüt.

Calvins Ökumeneverständnis und sein Wirken auf evangeliumsgemäße (in seinem Verständnis katholische) Einheit bei Differenz der konkreten Bedingungen der Einzelgemeinden thematisiert Michael Weinrich und zeigt, dass Aspekte davon bei der Gründung des Bundes Reformierter Kirchen (1875), des Ökumenischen Rats der Kirche (1948) und bei Karl Barth als Ökumeniker präsent waren. Eva-Maria Faber bringt Calvin und das Adjektiv "katholisch" noch in eine andere Perspektive, indem sie nach der Calvin-Rezeption der römisch-katholischen Theologie fragt. Ansätze und zukünftiges Potential sieht sie gegen die "Geistvergessenheit" in Calvins Pneumatologie, die die Rolle des Geistes beim Rechtfertigungsgeschehen und beim Abendmahl betont; aber auch Calvins Lehre, dass wegen der Bundestreue Gottes auch der alten Papstkirche vestigia des Kircheseins nicht abgesprochen werden können, war für die Entwicklung der katholischen Ekklesiologie im 20. Jahrhundert von Bedeutung, ebenso seine Lehre von den Ämtern Christi. Erneut beweist Frau Faber ihre tiefdringende Fähigkeit, theologische Gemeinsamkeiten jenseits konfessioneller Klischees zu erkennen.

Die Frage nach modernisierenden Wirkungen ist durch die nun schon so lange diskutierte Max Weber-These vorgegeben. Für diese ist zum einen die weitgehende Identifizierung von Calvinismus und Puritanismus entscheidend. Martin Sallmann untersucht die Schriften William Perkins'; dieser stellte sich, wenn auch nicht in einem exklusiven Sinn, in eine calvinistische Tradition. Perkins' Werke wurden im 17. Jahrhundert umgekehrt wieder in Basel gedruckt, was mit einer forcierten Ausrichtung auf Calvin verbunden war. Am Beispiel der Kirchenzucht zeigt Rudolf Dellsperger, wie reformierte Pietisten in Bern, Bremen, die niederländische Nadere Reformatie, aber auch Gerhard Tersteegen versuchten, diese wiederzubeleben. Matthias Zeindler weist den tiefgehenden Einfluss Calvins auf Jonathan Edwards und den "Great Awakening" im 18. Jahrhundert und damit das amerikanische Nationalbewusstsein auf, indem Edwards die Wahrheit der religiösen Affekte im wahren Gottesverhältnis begründet sein lässt. Calvinistisch kann auch seine antipelagianische Wendung gegen deistische Aufklärer ("Arminians") und seine Sicht auf Natur und Geschichte als Manifestation der göttlichen Herrlichkeit interpretiert werden.

In den Niederlanden wird sich Abraham Kuypers im 19. Jahrhundert schließlich ebenfalls mit Bezug auf Calvin antimodern gegen die Aufklärung wenden, so dass die "Gereformeerde Kerken" sich abspaltete, was Dirk von Keulen behandelt. Direkt die Weber-These nimmt sich Max Lienemann vor, der schon zu einem von Webers Kronzeugen, Benjamin Franklin bemerkt, dass dieser nicht für einen Zusammenhang von Calvinismus und innerweltlicher Askese / rationaler Lebensführung stehen könne, da er kein gläubiger Calvinist war. Weder von der calvinischen Prädestinationslehre, noch von der Ekklesiologie, noch der Wirtschaftsethik lassen sich Brücken zum Frühkapitalismus schlagen, am ehesten noch vom Berufsverständnis, das aber eher allgemeinreformatorisch ist.

Calvins Einfluss auf die moderne Demokratie geht Michael Beintker nach. Ohne selbst Demokrat gewesen zu sein, habe Calvins Scheidung von weltlicher und geistlicher Ebene und die Verpflichtung der Staaten auch auf den Schutz der Freiheit, schließlich das synodale und demokratische Element in der Kirchenverfassung, doch formierend auf die Ausbildung von Demokratien gewirkt. Christoph Strohm weist nach, wie bei den protestantischen Juristen des 16. Jahrhunderts die Bibel und stoisch-rationales Naturrechtsdenken zusammenrückten, geistliches und weltliches Regiment aber scharf unterschieden wurden, was für die Entwicklung der Rechtswissenschaften und damit der Universitäten von erheblicher Bedeutung gewesen ist. Einer der Kristallisationspunkte war die Erlaubtheit des Widerstands gegen Tyrannen; Prämissen hierfür, so Kaspar von Greyerz, habe schon Calvin geschaffen, doch erst Beza habe die Konsequenzen gezogen, der sich freilich besonders auf den lutherischen Widerstand Magdeburgs gegen das Interim bezog.

Die Vielzahl von Rezeptions- und Aktualisierungsvorgängen reflektieren Einleitung und Epilog: Erschöpfend wurden diese im vorliegenden Band nicht behandelt, aber wichtige Schwerpunkte markiert.

Klaus Unterburger