Rezension über:

Christine Roll / Frank Pohle / Matthias Myrczek (Hgg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung (= Frühneuzeit-Impulse; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 684 S., ISBN 978-3-412-20646-8, EUR 64,90
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Rezension von:
Michael G. Müller
Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Michael G. Müller: Rezension von: Christine Roll / Frank Pohle / Matthias Myrczek (Hgg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 4 [15.04.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/04/19797.html


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Christine Roll / Frank Pohle / Matthias Myrczek (Hgg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen

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Dieser erste Band der neuen Reihe Frühneuzeit-Impulse dokumentiert die Beiträge der Aachener Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im September 2009. Mit der neuen Reihe soll, so das Vorwort, ein Forum für die Präsentation und Diskussion innovativer Ansätze zu großen Themen der Frühneuzeitforschung geschaffen werden; von hier sollen Impulse ausgehen. Die Lektüre vermittelt allerdings den Eindruck, dass es sich im Wesentlichen doch eher um einen konventionellen Sammelband handelt. Eine wirkliche Bilanz der Frühneuzeitforschung zum Thema mit dem berechtigten Anspruch auf thematische, methodische oder regionale Repräsentativität bietet er eher nicht. Drei wichtige Voraussetzungen dafür scheinen zu fehlen.

Zum Ersten fehlt dem Band ein im wörtlichen Sinn bilanzierendes Kapitel. Die Einleitung der Mitherausgeberin Christine Roll liest sich in ihren konzeptionellen Passagen eher wie ein call for papers denn wie eine systematische Auseinandersetzung mit dem Ertrag der Grenzen-Forschung im Allgemeinen oder der Tagungsdiskussionen im Besonderen. So bleibt die Vermutung, dass "die Frühe Neuzeit als die Epoche der dynamischsten Grenzverhältnisse zu gelten [hat]" (19), eben - eine Vermutung. Es gibt keine konkrete Antwort auf die Frage, ob und warum es zwischen 1500 und 1800 etwa mehr Grenzüberschreitungen in Europa gegeben haben sollte als im Mittelalter oder der Moderne (was man wohl auch aus guten Gründen bezweifeln könnte). Ebenso wenig gibt es eine Antwort darauf, in welcher Hierarchie die zeitgenössischen Wahrnehmungen von Grenzen bzw. Erfahrungen von Grenzüberschreitungen gestanden haben mögen: Wurden territoriale Grenzen (zwischen Stadt- oder Landesterritorien, gar zwischen "Reichen") in der Frühneuzeit als bedeutsamer oder als weniger bedeutsam wahrgenommen und erfahren als die Grenzen zwischen konfessionellen Milieus, Ständen oder politischen Systemen? Gab es spezifisch frühneuzeitliche Modi für die Demarkation von Grenzen, und wie veränderten diese sich im Lauf der Epoche? Tatsächlich kommen alle diese Fragen in den Beiträgen irgendwo vor. Ein Angebot, die hier präsentierten Ansätze und empirischen Befunde zusammenzuführen, wird aber nicht gemacht.

Für eine konsistente Bilanz der Frühneuzeitforschung fehlt zum Zweiten eine hinreichend reflektierte transnationale Perspektive. Dass hier mit wenigen Ausnahmen nur deutsche bzw. in Deutschland forschende Frühneuzeitexpertinnen und -experten zu Wort kommen, wird man verschmerzen können; schließlich handelt es sich um eine Initiative der Frühneuzeit-Arbeitsgemeinschaft im Rahmen des deutschen Fachverbands. Schwerer kann man sich aber damit abfinden, dass es keine systematische Reflexion darüber gibt, wie deutsche, europäische und außereuropäische Erfahrungen (und natürlich die entsprechenden historiographischen Ansätze) miteinander in Beziehung zu setzen wären. Zwar beschäftigt sich mehr als die Hälfte der Beiträge nicht nur mit Binnenverhältnissen des Alten Reichs, sondern auch mit Grenzüberschreitungen zwischen dem Reich und anderen Gebieten, mit anderen europäischen Regionen oder mit Grenzüberschreitungen zwischen europäischen und außereuropäischen Regionen, dies vor allem im kolonialen Raum. Doch geht das hier präsentierte Tableau außerdeutscher, transnationaler Beiträge wohl kaum auf eine konzeptionell gesteuerte Findung von Themen und Autorinnen / Autoren zurück. Bezeichnend dafür: Die Einleitung weist mit Recht auf den großen Beitrag der neueren historischen Ostmitteleuropa-Forschung zur Auseinandersetzung mit Fragen nach Grenzräumen und Grenzüberschreitungen in der Frühneuzeit hin. In dem vorliegenden Band sind diese Forschungen jedoch mit keinem einzigen Beitrag vertreten. Osteuropa kommt nur dadurch in den Blick, dass zwei von fünf Beiträgen zu dem Themenblock "Konfessionelle Grenzgänger an europäischen Höfen" (595-680) osteuropäische Beispiele diskutieren, nämlich die Rolle von Nichtkatholiken am polnischen Hof der Wettiner (Andreas Frings) bzw. von Nichtorthodoxen am russischen Zarenhof des späten 18. Jahrhunderts (Jan Kusber).

Zum Dritten erweist sich die konzeptionelle / thematische Klammer "Grenzen und Grenzüberschreitungen" auch sachlich als zu schwach, als dass man die hier dokumentierten Ansätze und Einzelbefunde überzeugend zusammenführen könnte, ein Problem, das für große Verbandstagungen, bei denen möglichst viele, oft sehr unterschiedliche Forschungsansätze integriert werden sollen, typisch ist. Für einzelne Beiträge, wie etwa den exzellenten Aufsatz von Achim Landwehr ("Die Zeichen der Natur lesen. 'Natürliche' Autorität im habsburgisch-venezianischen Grenzgebiet in der Frühen Neuzeit", 131-145), bilden Auseinandersetzungen über und Repräsentationen von Grenzen eigentlich nur den Ausgangspunkt dafür, um über ganz andere Probleme nachzudenken - in Landwehrs Fall über die Ordnungen des Wissens und die Autorität von Beweismitteln in der Frühen Neuzeit. Auch in Bezug auf den Themenblock "Geschlechtergrenzen und ihre Infragestellung"(527-596) lässt sich fragen, ob der Grenzbegriff hier mehr leistet, als ein Stichwort zu geben, um Probleme der frühneuzeitlichen gender history zu thematisieren - was zum Beispiel Eva Labourie ("Geschlechtergrenzen, Status und Vergeschlechtlichung der Wahrnehmung. Kulturen der Geschlechter in der ländlichen Gesellschaft der Frühneuzeit", 535-546) oder Monika Mommertz ("Geschlecht als Markierung, Ressource und Tracer", 573-596) auf originelle Weise tun. Überdehnt erscheint der Grenzbegriff etwa bei dem Themenblock "Der Tod des Herrschers als Grenze und Übergang" (263-324), wo es schlicht um "Übergänge" geht - im Sinne von passages und deren Riten, wie sie in der Forschung seit Langem diskutiert werden. Ähnliches gilt für den Themenblock "Biographische Grenzpassagen - die Lebenswelt 'Militär'" (335-376), in dem es wiederum eigentlich um rites de passage geht, noch deutlicher für den bereits erwähnten Komplex "Konfessionelle Grenzgänger an europäischen Höfen", wo gar nicht über Grenzgänger diskutiert wird, sondern über höfische Akteure mit einem minoritären religiösen Bekenntnis. So leidet der Band offensichtlich an so etwas wie einem conceptual overstretch.

Dies liegt wohl vor allem daran, dass besagte Themenblöcke, die den einzelnen Sektionen der dokumentierten Tagung entsprechen, doch mehr oder weniger selbständige Unternehmen bilden - neben den vier bereits erwähnten die Komplexe "Theoretische Konzepte - Räume und Grenzen" (25-104), "Natur Ein-Grenzen" (105-162), "Vom Umgang mit konfessionellen Grenzen" (163-216), "Grenzüberschreitungen im regionalen Raum" (217-262), "Grenzen der Nachbarschaft" (377-451) sowie "Grenzen kolonialer Herrschaft" (453-526). Diese Themenblöcke unterscheiden sich deutlich im Hinblick auf ihren thematisch-methodischen Zugriff wie auch ihre räumliche und zeitliche Reichweite. Alle (mit Ausnahme leider des ersten Blocks, bei dem es um die theoretischen Konzepte und Begrifflichkeiten von Raum geht) sind mit einführenden, die Einzelstudien integrierenden Beiträgen versehen, so dass die jeweiligen Kapitel sich wiederum mit Gewinn als Bilanzen von aktuellen Forschungsdebatten in je konkreten Themenfeldern lesen lassen.

Zu den besonders lesenswerten Kapiteln gehört der von Renate Dürr methodisch und forschungsgeschichtlich sehr gut eingeleitete (453-460) Komplex "Grenzen kolonialer Herrschaft", der sowohl die gestalterischen Grenzen frühneuzeitlicher kolonialer Herrschaft als auch die Geschichte von geographischen Grenzziehungen im kolonialen Raum thematisiert. Beleuchtet wird, wie es unter den Bedingungen eher insularer, noch keineswegs auf flächendeckende territoriale Herrschaft zielender Kolonienbildung in der Vormoderne zu Aushandlungsprozessen über räumliche Demarkationen, zur Entstehung von kulturellen Konflikt- und Kontaktzonen sowie zu eigentümlichen Übersetzungskulturen kam - mithin zur Ausbildung von (natürlich!) hybriden Räumen. Zugleich wird deutlich, dass das Konzept des Kolonialen vor dem 19. Jahrhundert durchaus noch nicht auf seine spätere Bedeutung festgelegt war: Es konkurrierten in denselben Räumen offenbar nicht nur verschiedene europäische Akteure, sondern auch verschiedene (zum Beispiel etatistische, kommerzielle oder missionarische) Visionen von der Gestaltung des kolonialen Raums. Hier wird man in der Tat Impulse für weitere Forschungen finden.

Auch etwa aus dem von Ralf Pröve kundig eingeleiteten (335-341) Kapitel zur "Lebenswelt 'Militär'" kann man neue Anregungen gewinnen, wenn man denn von der Erwartung absieht, dass hier über Grenzen und Grenzüberschreitungen in einem allgemeineren Sinn reflektiert werden sollte. Die Beiträge beschäftigen sich mit den "Erkenntnismöglichkeiten der Performanz- und Ritualforschung" für die Untersuchung von Initiations- und Übergangsriten in der Arena des Militärischen (340). Dabei steht die Erkundung der Dimension des Rituellen selbst im Vordergrund: Wie vieler Rituale und welcher rituellen Instrumente bedurfte die Lebenswelt Militär in der Frühen Neuzeit, um Übergänge - darunter auch die zwischen Leben und Tod - zu bewältigen? Zu dem Ziel, "das Frühneuzeitliche am Militär" genauer zu bestimmen (so Pröves Forderung), leisten die Einzelstudien einen beachtlichen Beitrag.

So bietet der Band insgesamt lohnenden Lektürestoff - auch Impulse auf verschiedenen Ebenen. Auch andere als die hier besonders hervorgehobenen Kapitel tragen Wesentliches dazu bei. Am schwächsten ist der Band aber ironischerweise dort, wo es um die systematische Reflexion über die geographischen Räume in der Geschichte der Frühneuzeit geht: um die Parameter, nach denen Handlungsräume entstanden sowie Grenzen erfahren, gedacht und demarkiert wurden. Vielleicht sollte die Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit also noch einmal einen Schritt zurück machen und sich vornehmen, die große Debatte über space und transnational spaces in der europäischen wie außereuropäischen Geschichte präziser aufzuarbeiten. Hier wären weitere Impulse durchaus willkommen.

Michael G. Müller