Thomas Dorfner / Thomas Kirchner / Christine Roll (Hgg.): Berichten als kommunikative Herausforderung. Europäische Gesandtenberichte der Frühen Neuzeit in praxeologischer Perspektive (= EXTERNA. Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven; Bd. 16), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 198 S., ISBN 978-3-412-52367-1, EUR 49,00
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Die Herrschaftsträger vormoderner Außenbeziehungen trafen selten persönlich zusammen. Unterschiedliche Personengruppen vermittelten darum die Beziehungen, die sich in der Frühen Neuzeit intensivierten. Berichterstattung war ein zentraler Teil ihres Agierens. So unterschiedlich wie die Aufgaben oder der Status von Gesandten waren ihre Strategien des Berichtens. Diesem Phänomen widmet sich der Sammelband und eröffnet eine weitere Perspektive auf "europäische Gesandtenberichte", die sich immer wieder als fruchtbare Quellengattung erweisen.
Die sieben Beiträge sind aus einer Tagung hervorgegangen, die 2016 in Aachen stattfand. Ergänzt werden sie von einer umfangreichen Einleitung von Christine Roll, die zugleich ein Forschungsbericht und eine methodische Hinführung zur "praxeologischen Perspektive" europäischer Gesandtenberichte ist, sowie von einem Kommentar von Marian Füssel. Der methodische Ansatz steht in der Tradition einer Diplomatiegeschichte aus der Mikroperspektive, die zeitgenössische Akteure und ihre Praktiken jenseits einer modernen Begrifflichkeit einordnet. Statt auf die Akteure und ihr Handeln fokussiert sich der Blick hier auf die Kommunikationspraxis.
Die im Band untersuchten Fallbeispiele sind zeitlich und räumlich disparat. Sie reichen vom 16. zum 18. Jahrhundert und umfassen unter anderem Ungarn, Venedig, das Osmanische Reich, Russland, Polen-Litauen, England, die Niederlande oder den Westfälischen Friedenskongress. Ein Orts- und Personenregister ermöglicht eine gewisse Orientierung. Allerdings gehen die Autorinnen und Autoren auch methodisch und perspektivisch unterschiedlich an das Rahmenthema heran. Da die Beitragstitel nicht immer transparent machen, um was es konkret geht, wären Abstracts der einzelnen Beiträge hilfreich gewesen.
Der Blick auf die Praxis des Berichtens changiert zwischen den Kommunikationsprozessen, den Berichtenden und den Quellen, die mehr sind als das in ihnen Berichtete. Megan K. Williams blickt noch tiefer, auf die Materialität der Quellen: Billiges Papier brachte 1526 mit dem Beglaubigungsschreiben des ungarischen Botschafters in Venedig die Not des Landes angesichts der osmanischen Expansion zum Ausdruck. Die Verbreitung des kostengünstigen Beschreibstoffs war zugleich die Voraussetzung der intensivierten Berichterstattung am Beginn der Neuzeit und entsprechender Kanzleiroutinen, die uns die Quellen offenbaren können, wenn wir sie in ihrer gesamten Materialität erschließen. Lena Oetzel wiederum hinterfragt die Kategorien der Quellengattungen und thematisiert die "Intertextualität" diplomatischer Quellen am Beispiel der kursächsischen Gesandtschaft beim Westfälischen Friedenskongress: So enthielt das Gesandtschaftsdiarium gleichsam das Rohmaterial, das in den Relationen weiter aufbereitet wurde. Beide befinden sich in einem größeren "Textsortennetz" der Gesandtschaft.
Immer wieder stellt sich die Frage, wofür ein Bericht vor allem als Quelle dienen kann: für das Berichtete oder für den Berichtenden in seinem sozialen Kontext? Die russischen Botschafter in Polen-Litauen hatten angesichts der wachsenden Abhängigkeit Polens im Kontext der Polnischen Teilungen eine derart starke Position, dass Dorota Dukwicz ihre Berichte in der Kategorie von Rechenschaftsberichten von Gouverneuren sieht. Viele frühneuzeitliche Berichterstatter agierten dagegen im Hintergrund. Michael Kaiser arbeitet mit Johann van der Veecken, der während des Dreißigjährigen Krieges in Den Haag im Dienst des Kurfürsten von Köln stand, einen solchen Fall auf: Der Kurfürst gab die erhaltenen Nachrichten ohne Namensnennung weiter. Das bedeutete nicht, dass van der Veecken bedeutungslos war. Es zeigt vielmehr das Vertrauen, das in seine Berichte gesetzt wurde, was ihm wiederum Gestaltungsspielräume gab. Auch Matthias Pohlig unterstreicht für die englische Informationsgewinnung in der Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs, dass Glaubwürdigkeit nicht nur über den offiziellen Status eines Gesandten hergestellt werden konnte. Hinzu kommt bei der Interpretation das in Botschaftskanzleien übliche Phänomen der kollektiven Autorschaft. Florian Kühnel untersucht die englische Botschaft in Istanbul am Ende des 17. Jahrhunderts, wo sich der Botschafter in besonderer Weise auf die spezifischen Kenntnisse seiner Mitarbeiter stützen und verlassen musste, welche die Berichte so mit prägten. Quasi das Pendant zur kollektiven Autorschaft, nämlich den multiplen Adressatenkreis, skizziert Dorothée Goetze und analysierte, wie Schreiben und Informationen der kaiserlichen Gesandtschaft beim Westfälischen Friedenskongress am Kaiserhof kursierten. Die Bedeutung von Berichten und der Zugang zu Informationen lässt sich auch hier nur bedingt durch formale Kategorien wie "offiziell" erfassen.
Für diejenigen, die sich schon länger mit Gesandtenberichten beschäftigen, werden viele der grundsätzlichen Erkenntnisse des Sammelbandes nicht neu sein. Allerdings werden sie hier im Hinblick auf eine Forschungsperspektive des Berichtens auf den Punkt gebracht und für die aktuelle Forschung anschlussfähig gemacht. Dabei bestätigt sich für das Berichten die Bedeutung von Faktoren wie Klientel oder Vertrauen, welche die Frühneuzeitforschung bereits als konstitutiv für diese Epoche und ihre Diplomatie herausgearbeitet hat. Methodisch machen die Beiträge deutlich, dass historische Forschung sich dicht an den Quellen befinden und diese ständig hinterfragen und unter veränderten Perspektiven betrachten muss. Die historischen Hilfs- bzw. Grundwissenschaften rücken dabei wieder in den Vordergrund. Insofern ist es bedauerlich, dass die Einleitung sich über weite Strecken daran abarbeitet, sich von einer vermeintlich ignoranten älteren Forschung zu Gesandtenberichten abzugrenzen. Dabei beziehen sich viele Beiträge auf etablierte Standardwerke wie das von Garrett Mattingly von 1955. Zudem hat die ältere Forschung mit Editionen die Grundlage für die aktuellen Konjunkturen der Diplomatiegeschichte gelegt. Das zeigt unter anderem der dicht aus der Edition Acta Pacis Westphalicae gearbeitete Beitrag von Dorothée Goetze. Leider weist die Gesamtbibliographie des Bandes Quellenpublikationen nicht separat aus.
Die Beiträge bieten durchweg quellennah relevante Einblicke in das Berichten. Die starke Betonung der Innovativität des Bandes relativiert sich allerdings bereits durch eine Publikationsdauer von fünf Jahren, in der die Forschung vorangeschritten ist. Verweise wurden nur teilweise aktualisiert: So verweist Michael Kaiser (68, Anm. 20) auf einen noch im Erscheinen befindlichen Artikel, der bereits 2018 erschienen ist. Der hohe methodische Anspruch wird aber konzeptionell überhaupt nur bedingt eingelöst. Nicht alle Autorinnen und Autoren reflektieren den praxeologischen Ansatz gleichermaßen, und die Gesamtschau hinterlässt nicht den Eindruck, dass mit einem stringenten gemeinsamen Konzept gearbeitet wurde. Die Einleitung entwirft ein solches nicht. Präziser ist der Kommentar von Marian Füssel, der versucht, die Beiträge auf die historische Praxeologie hin zu adaptieren. Es empfiehlt sich, sich den Band von hier aus zu erschließen.
Anuschka Tischer