Sven Reichardt / Wolfgang Seibel (Hgg.): Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt/M.: Campus 2011, 300 S., ISBN 978-3-593-39422-0, EUR 29,90
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Der Titel hinkt dem Gehalt des Buches hinterher. Die These, dass nationalsozialistische Herrschaftspraxis staatliche Strukturen immer weiter zerstört habe, hat die jüngere Forschung gründlich widerlegt. Der NS-Staat war daher nicht "prekär", also auf unsicheren Fundamenten stehend. Das ist auch der Grundton des Sammelbandes, der auf eine 2008 abgehaltene Tagung zurückgeht und die Summe der neueren Verwaltungsforschung zum Nationalsozialismus zieht. Alle Beiträge verhandeln die Frage, auf welchen Nenner der Wandel zu bringen sei, den nationalsozialistische Organisationsformen und Herrschaftspraxis in Entscheidungsprozesse und Implementationsformen staatlichen Handelns hineintrugen.
Wenig darin ist grundsätzlich neu; die meisten Beiträge führen Gedanken und Thesen fort, die die Autoren bereits an anderer Stelle entwickelt haben. Weil es sich durchweg um ausgewiesene Expertinnen und Experten für den Wandel von Staatlichkeit und Herrschaftsausübung während der NS-Diktatur handelt, die zudem Aufgeschlossenheit für Theorieangebote aus benachbarten Disziplinen und das Interesse an generellen Funktionsweisen der NS-Diktatur eint, bietet der Band mehr als ein Zwischenfazit eines Teilgebiets der NS-Forschung. Indem er plausibel macht, wie die nationalsozialistische Herrschaftspraxis funktionierte, gibt er auch Antworten darauf, warum dies überhaupt möglich war. Deutlich wird nämlich, dass die diversen Machttechniken, die unbeständigen institutionellen Arrangements und die Integrationskraft personeller Verflechtungen grundsätzlich nur wenig "NS-Spezifisches" an sich hatten. Über vertraute organisatorische Formen konnten mörderische Ziele gut umgesetzt werden. Ein großer Vorzug des Bandes besteht darin, dass er Tiefenbohrungen auch in die Verwaltung der besetzten Ostgebiete vornimmt und diese Strukturen mit denen im "Altreich" in Beziehung setzt. Dagegen herrscht leider die in der Verwaltungsgeschichte in der Regel dominierende Institutionsperspektive vor.
Die Akteursperspektive beschränkt sich auf die Analyse der leitenden Herrschaftsträger. Sichtweisen, Reaktionen, gar Eigensinn der von den Herrschafts- und Verwaltungsakten Betroffenen kommen nur ganz sporadisch vor. Sie müssten stärker in eine Verwaltungsgeschichte einfließen, die Herrschaft als "soziale Praxis" (Alf Lüdtke) konzipiert.
Die beiden Herausgeber skizzieren den Forschungsstand in einer konzisen Einleitung, deren Titel die Überschrift des Sammelbandes ausbalanciert bzw. konterkariert: Unter den Stichworten "Radikalität" und "Stabilität" konzentrieren sie auf engem Raum die wesentlichen Erkenntnisfortschritte der Verwaltungsgeschichte zum Nationalsozialismus seit den 1990er Jahren. Besonders wertvoll ist die Einbettung dieser Erkenntnisse in organisationssoziologische Theorien. Dieser Kontext zeigt nämlich, dass vermeintliche Kennzeichen nationalsozialistischer Herrschaft wie Personalisierung, Informalisierung und Ideologisierung auch in ganz anders verfassten Ordnungssystemen die Schlüsselvariablen von Reintegration darstellen. Daher war die NS-Herrschaft in dieser Sichtweise nicht darum so effektiv, weil sie nationalsozialistisch war, wie neuere Interpretationen der Polykratie-These erklären. Vielmehr zeigt diese Effektivität nach Ansicht der Herausgeber, "wie formale Organisationen generell unter den Bedingungen von Dauerstress und struktureller Instabilität elastisch und leistungsfähig bleiben können (18).
Rüdiger Hachtmann geht in seinem Aufsatz über die "neue Staatlichkeit" einen anderen Weg, indem er die NS-Spezifik zum Kern seiner Analyse macht. Dafür bedient er sich der Herrschaftssoziologie Max Webers, der er den Begriff des "charismatischen Verwaltungsstabes" entnimmt, diesen in mehrere Untertypen ausdifferenziert und schließlich auf die Deutsche Arbeitsfront anwendet. Für die informelle Vernetzung der Herrschaftsträger unterschiedlicher Verwaltungsstäbe seien Informationsbörsen und Kommunikationsforen wie politische Zirkel und Clubs (etwa der Club von Berlin oder der Aeroklub Deutschlands) unverzichtbar gewesen. Seine These gipfelt darin, dass charismatische Verwaltungsstäbe das Instrument für eine "kumulative Durchherrschung der Gesellschaft" (48) gewesen seien. Anders als die Herausgeber erklärt Hachtmann die Flexibilität und Effizienz der NS-Herrschaft also mit deren spezifischen Organisationsstrukturen.
Ähnlich verfährt Michael Ruck in seinem Beitrag über "Partikularismus und Mobilisierung", der in einer gedanklichen Kontinuität zu seinen weithin rezipierten Ausführungen über das Verhältnis von Zentralgewalt und Regionalität in der NS-Diktatur steht. Seine These lautet, dass die polykratische Konkurrenz der Unterführer die Ressourcen mobilisierte, die den inneren Zusammenbruch des Regimes bis zur totalen militärischen Niederlage hinauszögerten.
Armin Nolzens Beitrag über die Reichsorganisationsleitung als Verwaltungsbehörde der NSDAP stellt diese Herangehensweise in Frage. Er beschreibt unter Rückgriff auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns, wie die NSDAP selbst einen Bürokratisierungsprozess durchlief, und zwar als wechselseitiges Anpassungshandeln von Organisation und Umwelt. Demnach ist es unzureichend, die Verwaltungspraxis während der NS-Diktatur als Lern- und Anpassungseffekte staatlicher Instanzen auf die Organisationsgewohnheiten der NSDAP zu verstehen. Nolzen analysiert die Kompetenzkonflikte zwischen hochrangigen NS-Funktionären als "Institutionalisierung", versteht die Multiplikation von formalen Organisationen als "Ausdifferenzierung" und diskutiert den Zugriff von Instanzen der NSDAP auf immer neue Kompetenzen unter dem Begriff der "Leistung", wobei er alle Begriffe als Luhmann'sche Analysekategorien verwendet und definiert. Obwohl diese Perspektive nur skizziert wird, zeigt die Analyse, dass es weiterführt, die NS-Herrschaft mit Kategorien zu beschreiben, die nicht eigens für ihre Analyse aufgestellt wurden.
Wolf Gruners Beitrag über die Kommunen im Nationalsozialismus lenkt den Blick auf die für die untere Ebene besonders reichen Erträge der Verwaltungsforschung der letzten beiden Jahrzehnte. Die Kommunen waren "eigenständige und mächtige Akteure" (204) im 'Dritten Reich', sie entwickelten eigene Initiativen zu den Kernzielen des Regimes, glichen Organisationsdefizite durch eigenständiges Handeln aus und standardisierten erfolgreiche Verwaltungslösungen durch intensiven Austausch untereinander, den vor allem der Deutsche Gemeindetag vermittelte. Alle diese Praktiken lassen sich auch vor und nach den Jahren der NS-Diktatur ohne Mühe nachzeichnen, sodass der Blick auf die Städte und Gemeinden während des 'Dritten Reichs' zu generellen Schlüssen über die Spezifika bürokratischer Herrschaftspraxis einlädt.
Christiane Kuller stellt in ihrem Beitrag über die Ausplünderung der deportierten Juden durch die staatliche Finanzverwaltung die Frage, ob letztere in den Kategorien Ernst Fraenkels "normenstaatlich" oder "maßnahmenstaatlich" agiert habe. Das Dilemma entsteht durch die Kombination eines maßnahmenstaatlichen Ziels mit normenstaatlichen Mitteln, um es zu erreichen. Ihren Ausweg bezeichnet Kuller als "arrangierten Normenstaat" (230): Der NS-Staat schaffte demnach nicht einfach alle Normen ab, sondern begrenzte die auf ihnen fußende Rechtssicherheit auf die Mitglieder der "Volksgemeinschaft". Die Steuerbeamten schufen sich normierte Verfahren nicht so sehr, um Willkür gegenüber Juden zu vermeiden, sondern weil das diesen geraubte Vermögen der "Volksgemeinschaft" zukommen sollte, und zwar in geordneten Verfahren.
Einen "politischen Unternehmer" analysiert Wolfgang Seibels Beitrag über "Polykratische Integration: Nationalsozialistische Spitzenbeamte als Netzwerker in der deutschen Besatzungsverwaltung in Belgien 1940-1944". Der Chef des Verwaltungsstabes des Militärbefehlshabers in Belgien und Nordfrankreich, Eggert Reeder, erscheint paradigmatisch als "Verwaltungsmanager geradezu post-modernen Zuschnitts" (271). Seine hervorstechende Qualität seien ebenso politisches Urteilsvermögen wie fachliche Kompetenz gewesen, gepaart mit ausgeprägtem machttaktischem Geschick. Dies habe es ihm trotz begrenzter Durchsetzungskompetenzen ermöglicht, in dem polykratischen Instanzen- und Interessengeflecht der Besatzungsherrschaft seine eigene verwaltungspolitische Agenda durchzuführen.
Abschließend untersucht Sven Jüngerkes die deutsche Zivilverwaltung im Reichskommissariat Ostland als "Stabilisierungs- und Destabilisierungsmechanismus". Er stellt heraus, dass bürokratische Praktiken wie Verwaltungsreformen und die Herausprägung einer symbolischen Organisationskultur in der Konkurrenzsituation mit anderen mächtigen Organisationen wie der SS und der Polizei ein Mittel der Integration und des Machterhalts gewesen seien. Jüngerkes analysiert sie aber auch als selbstreflexive Diskurse, die eine "retrospektive Sinnstiftung im Sinnlosen" (295) ermöglicht hätten, als die Zivilverwaltung faktisch nichts mehr außer ihrem eigenen Rückzug regeln konnte. Die Zivilverwaltung erscheint damit nachgerade als autopoietisches System nach Luhmann.
Der Überblick über die Beiträge verdeutlicht, dass sie jeweils für sich genommen großen Erkenntnisgewinn abwerfen. Zusammengenommen legen sie den Schluss nahe, dass die klassischen Begriffe, die üblicherweise zur Analyse der NS-Herrschaft herangezogen werden, sie nur unzureichend beschreiben. Das gilt für "Polykratie" (ursprünglich als Gegenbegriff zu einer übertrieben zentralistischen Beschreibung der NS-Herrschaft eingeführt) ebenso wie für die Idealtypen der Herrschaftssoziologie von Max Weber und die Dichotomie von Normen- und Maßnahmenstaat nach Ernst Fraenkel. Keine dieser Kategorien bringt unser ausdifferenziertes Verständnis der NS-Herrschaft noch auf den Punkt. Ihr Nachteil besteht darin, dass für sie die Effektivität der NS-Herrschaft an sich erklärungsbedürftig ist, und dies wiederum geht auf einen Maßstab zurück, den alle neueren Arbeiten ablehnen, nämlich den bürokratischen Anstaltsstaat. Die Beiträge, die mit jüngeren organisationssoziologischen Theorieangeboten operieren, können davon unbelastete Perspektiven auf die Funktionsmechanismen der NS-Herrschaft ermöglichen.
Bernhard Gotto