Ulrich Heinen (Hg.): Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; Bd. 47), Wiesbaden: Harrassowitz 2011, 2 Bde., 1180 S., 153 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-06405-7, EUR 169,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Anna Jerratsch: Der frühneuzeitliche Kometendiskurs im Spiegel deutschsprachiger Flugschriften, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020
Andreas Bähr: Der grausame Komet. Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg, Reinbek: Rowohlt Verlag 2017
Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Astronomie - Literatur - Volksaufklärung. Der Schreibkalender der Frühen Neuzeit mit seinen Text- und Bildbeigaben, Bremen: edition lumière 2012
Mit den beiden Bänden Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock legt Ulrich Heinen die Ergebnisse des 12. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung (Frühjahr 2006) vor. Auf knapp 1200 Seiten entfalten darin 57 Beiträge mit einer Schwerpunktsetzung im 17. Jahrhundert ein beeindruckendes Spektrum an Formen der Antikenrezeption in zeitgenössischen Kontroversen.
Das Wissen von der Antike vermehrte sich in der frühen Neuzeit durch die Erträge philologisch-antiquarischer Gelehrsamkeit, aber auch motiviert durch politische oder konfessionelle Interessen permanent und in beachtlichen Dimensionen. Mit dieser "Explosion" von Wissen über das Altertum ging das Bewusstsein um die Heterogenität der Antike und ihrer Überlieferung Hand in Hand. Die "polyphone humanistische Respublica litterarum" (14) erfasste und nutzte diese Pluralität. Je nach Bedarf griff man in flexiblen Bezügen auf ausgewählte Aspekte der Antike als normative Argumente zurück.
Vor dem Hintergrund dieser (mittelbaren wie unmittelbaren) Rekurse auf die Antike fragen die Beiträge des Doppelbandes nach der Rezeption und Funktionalisierung von antiken Prätexten und Relikten, von Konstellationen und Oppositionen in den grundlegenden (national-)politischen, konfessionellen, (natur-)philosophischen, ethischen oder künstlerischen Anliegen und Konflikten im Barock. Von übergeordnetem Interesse ist es dabei zu eruieren, inwiefern eine Ineinanderspiegelung frühneuzeitlicher und antiker Kontroversen ("doppelte Kontroversstruktur") als Strukturelement begegnet, oder anders, "welche Antike die eine und welche die andere Partei in Kontroversen und Konflikten der Epoche jeweils für sich reklamierte und wie die hierbei zur Geltung gebrachte Vielfalt kontroverser Antikenbezüge geltend gemacht und miteinander ins Verhältnis gesetzt wurde" (16).
Auch das Spannungsverhältnis zwischen "modernem" und antikem Wissen wird untersucht (zum Antiquar als Spottfigur im Kontext der Querelle Ingo Herklotz). Insbesondere die sich ausdifferenzierenden Naturwissenschaften und die Medizin stellten den unbedingten Vorbildcharakter der Antike in Frage, indem sie demonstrierten, wie man Wissen jenseits tradierter Autoritäten methodisch gewinnen und begründen kann. Bei der Etablierung ihrer Methoden und des auf ihnen basierenden Wissens lassen sich jedoch, wie etwa Simone de Angelis für den Bereich der Anatomie zeigt, neben distanzierenden immer wieder auch integrierend-legitimierende Rekurse auf antike Modelle und Re-Lektüren antiker Autoren beobachten.
Die Makrostruktur der Bände bilden vier Sektionen, zwei davon mit Einführungen: 1) "Antike Gemeinschaften und Herrschaftsformen im gesellschaftlichen Streit des Barock", 2) "Spätantike Religionen als Argumente religiöser Identität im Barock", 3) "Antike Lebenskonzepte als Konkurrenzmodelle im Barock", 4) "Antike Künste in den Kontroversen des Barock".
Zwischen der Einleitung des Herausgebers und dem Sektionenteil sind fünf Einzelbeiträge eingefügt. Zwei davon skizzieren Linien der Antikenrezeption im Überblick: Thomas Leinkauf fragt, welche "Angebote" antiker philosophischer Strömungen, Schulen und Autoren für das frühneuzeitliche Denken besonders relevant waren, und arbeitet die Bedeutung hellenistischer und spätantiker Ansätze heraus. Gerrit Walther verfolgt in diachronen Schritten Wechselbeziehungen von Antike und Politik im Barock und den flexiblen Umgang mit einer funktionalisierten, "politisierten" Antike vor dem Hintergrund konfessioneller Konfrontation. Zugleich zeigt er, wie versucht wurde, diese interpretierte Antike mit den Methoden strenger Philologie und Dokumentation zu objektivieren, wie die eigene Autonomie durch Lektüre "suspekter" Autoren wie Epikur oder Lukrez provozierend betont werden konnte und schließlich welche neuen Anforderungen das Grand Siècle an die Antike stellte.
Die Beiträge der ersten Sektion befassen sich mit dem "Zusammenhang von Herrschaftsvorstellungen und antiken Vorbildern, mit denen diese begründet oder kritisiert werden" (209), mit der "Wirkung der Antike (und ihrer unterschiedlichen Deutungen) auf gesellschaftliche und politische Vorstellungen der Barockzeit und auf die Repräsentation dieser Denkweisen in unterschiedlichen kulturellen Medien" (211), darunter vor allem darstellende und repräsentative Formen mit stark performativem Charakter. Die Studien widmen sich zunächst dieser Medienvielfalt im deutschsprachigen Raum (Panegyrik, Apophtegmatik, Oper, Drama, Bildkunst) und öffnen dann den Blick auf das Panorama herrschaftslegitimierender und -stabilisierender Antikenbezüge in Europa und ihre medialen Formungen.
Die zweite Sektion zeigt zum einen exemplarisch, wie die christliche Spätantike mit ihren textuellen, künstlerischen und materiellen Relikten als Argument im konfessionellen Kontext gebraucht wurde. Zum anderen, wie die Alterität des heidnischen "Irrglaubens" als effektives Mittel benutzt werden konnte, um das eigene religiöse Selbstverständnis zu profilieren (Dietrich Hakelberg). Eine kritische Position gegenüber der Vermengung paganer und christlicher Elemente - respektive eines christlich amalgamierten (Neu-)Platonismus - wird am Beispiel des Christian Thomasius charakterisiert (Anne Eusterschulte), konträre Positionen zum Hermetismus nimmt Hanns-Peter Neumann in den Blick, das Spektrum an philologisch-historischen und metaphysischen Überlegungen zum Ursprung der Kabbala beleuchtet Yossef Schwartz.
Die Rezeption frühchristlicher Religion wird in der dritten Sektion am Beispiel des Märtyrertums als Vorbildethik und der protestantischen Märtyrerliteratur als "Kampfinstrument im Dienst der reformatorischen Ziele" (734) zunächst weitergeschrieben (Ferdinand van Ingen). Dazu gesellen sich vermischte Beiträge zum weit gefassten Bereich "Lebenskonzepte", etwa zum Lob des schlanken, ästhetisch schönen Körpers als (satirische) Emanzipation von der Kalokagathia in Jacobus Baldes "Agathyrsus Deutsch" (Stefanie Arend), zur Diskussion von lebensweltlichen Fragen, die in Jacobus Pontanus' "Progymnasmata" und den akademischen Reden und Disputationen an der Dillinger Jesuitenhochschule im Dialog mit der Antike geführt wurden (Ulrich G. Leinsle) oder zur Rezeption der urbanitas im 17. Jahrhundert als "Aktualisierung einer distinguierten sozialen Praxis der römischen Antike" (848; Jörn Steigerwald).
In der vierten Sektion dominiert die Frage nach der Inanspruchnahme bestimmter Aspekte der antiken Rhetorik, Poetik und Kunst(theorie) für diverse Künste, Gattungen und Kunstauffassungen. So geht etwa Laure Gauthier der Diskussion um Legitimation und Status der Oper im 17. Jahrhundert nach und zeigt, wie Fürsprecher und Gegner des neuen Genres die Antike nutzten, um ihre jeweiligen Positionen zu untermauern - greifbar für Frankreich im poetologischen Diskurs der sogenannten "Querelle d'Alceste", für Deutschland im Hamburger Opernstreit als ethisch-moralischer Debatte. Ausgehend von zeitgenössischen Polemiken, die sich am "modernen" Grabdenkmal Giovanni Lorenzo Berninis für Urban VIII. entzündeten, macht Damian Dombrowski evident, dass Bernini keineswegs mit der Vorbildhaftigkeit antiker Modelle bricht, dass er jedoch - anders als sein Zeitgenosse François Duquesnoy - seine Werke nicht an antiken Prätexten engführt, sondern diese schrittweise ab- und verwandelt, die Antike für ihn mithin nicht Ziel-, sondern Ausgangspunkt ist.
Mit der (überwiegenden) Fokussierung auf Kontroversen des Barock, in denen jeweils divergierende Elemente einer pluralen Antike beansprucht beziehungsweise divergierende Modi der Antikenrezeption angewendet werden, leisten die Studien gerade auch in vorliegender Bündelung einen zentralen Beitrag für die Erforschung des Umgangs mit der Antike und ihrer strukturellen Wahrnehmung im 17. Jahrhundert. Der konzeptionellen und inhaltlichen Qualität der Bände entspricht dabei die formale: Dank der sorgfältigen Redaktion seitens des Herausgebers und der Sektionsleiter, die angesichts der Vielzahl von Beiträgen eine besondere Herausforderung darstellt, besteht kaum Anlass zu formalen Beanstandungen. Etwas gewöhnungsbedürftig ist allerdings die Praxis, lateinische Begriff in der (meist) flektierten Form der Vorlage in die deutsche Syntax einzubauen.
Fast alle Autoren nehmen die Mühe auf sich, die von ihnen zitierten lateinischen Passagen zu übersetzen. Dies geschieht überwiegend in sehr guter Qualität, wie in den Studien von Bartosz Awianowicz, Thomas Behme, Silke-Petra Bergjan, Zrinka Blažević und insbesondere von Ulrich G. Leinsle, Barbara Mahlmann-Bauer und Thomas Schirren. In einzelnen anderen Beiträgen begegnen stellenweise Missverständnisse. [1]
Die beiden Bände zeichnen sich durch ein ansprechendes Layout, eine großzügige Ausstattung mit Schwarzweiß-Abbildungen sowie ein Personenregister aus. Die Beiträge der einzelnen Sektionen sind schlüssig an- und aufeinander zugeordnet. Sie beeindrucken durchweg durch einen luziden, gut gegliederten Aufbau und stellen in souveräner Weise eine Balance zwischen Hinführung, Kontextualisierung und Spezialuntersuchung her, wie man es sich von einem interdisziplinären Großprojekt nur wünschen kann. Dass in der Zusammenschau, aber auch in den Einzeluntersuchungen "unterschiedliches Traditionsverhalten in Bezug auf selbst differente antike Traditionen" (210) plastisch zu Tage treten und somit ein zentraler Aspekt frühneuzeitlicher Antikenrezeption auf breiter, fachübergreifender Basis erschlossen werden kann, liegt an der hohen Kompetenz wie Innovationsstärke der beteiligten Wissenschaftler, die ihre Studien in beständiger Auseinandersetzung mit der vielschichtigen Frage "Welche Antike?" entwickelt haben.
Anmerkung:
[1] So etwa bei Hartmut Laufhütte 217: quid mihi nent fila Parcae korrekt: wozu spinnen die Parzen den Lebensfaden für mich; 221: quae pectora flammis digna Tuis uri? korrekt: welches Herz (wird) wert (sein), durch Liebesglut zu Dir verzehrt zu werden; quis inclita bracchia figet? korrekt: wer wird seine edlen Arme (um Dich) schlingen u.a. Bei Anne Eusterschulte 610, Anm. 20: gemeint sind die Dioskuren nicht Dioskurides; passum (pati) bezieht sich als PPP auf eundem und somit auf das Leiden Christi; pene dixerim Parenthese mit Potentialis der Gegenwart; 611, Anm. 21: Bezug solum auf in verbis; 612f., Anm. 27: quo relativischer Satzanschluss; cum [...] ferverent Konjunktiv nicht zu übersetzen; 616f., Anm. 38: caeterum im übrigen (Syntax in Folge missverstanden: propago videtur delineari posse) u.a. Bei Sandra Richter 941, Anm. 34: modus quidam ein gewisses Maß; 944, Anm. 44: non monstrosum auf poema zu beziehen; 945 docturus auf Horatius zu beziehen; vicia Fehler (vitia); antea [...] quam zuerst [...] bevor; extirpat kein Konjunktiv u.a., dazu einige mechanische Fehler bei der Wiedergabe der lateinischen Texte. Bei Nadia J. Koch 1043 pictum equum gemaltes Pferd; 1045 eriget, afferet Futur; in operis quasi societatem gleichsam zur Teilnahme am Werk.
Marion Gindhart