Katrin Keller / Alessandro Catalano (Hgg.): Die Diarien und Tagzettel des Kardinals Ernst Adalbert von Harrach (1598 - 1667) (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs; Bd. 104/ 1-7), Wien: Böhlau 2010, 7 Bde.; 5844 S., ISBN 978-3-205-78461-6, EUR 890,00
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Ernst Adalbert von Harrach (1598-1667) entstammte einer erbländischen Adelsfamilie, die seit dem 16. Jahrhundert dank ihrer engen Beziehungen zum habsburgischen Kaiserhof einen beachtlichen Aufstieg erlebte. Als zweitgeborener Sohn Karls von Harrach schon früh für eine kirchliche Karriere bestimmt, erhielt er eine hervorragende geistliche Ausbildung, wie sie für adlige Kleriker nicht unbedingt obligatorisch war. Insbesondere studierte er von 1616 bis 1620 am Collegium Germanicum in Rom und lernte hier auch das nachtridentinische Borromeische Bischofsideal kennen, das seine spätere Amtsführung prägte.
1622 wurde Ernst Adalbert von Kaiser Ferdinand II. für den Prager Erzbischofsstuhl nominiert, was Papst Gregor XV. Anfang 1623 bestätigte, nachdem der Kandidat die höheren Weihen erhalten hatte. Durch sein Amt wurde er eine zentrale Figur für die Reorganisation der katholischen Kirche und die Gegenreformation in Böhmen nach dem habsburgischen Sieg über die Ständeopposition in der Schlacht am Weißen Berg (1620). Diesbezüglich gab es allerdings durchaus differierende Vorstellungen der unterschiedlichen Akteure vor Ort, am Kaiserhof und an der römischen Kurie. Der 1626 zum Kardinal ernannte Harrach hatte hier manchen Konflikt, unter anderem mit den Jesuiten, auszufechten.
Wie üblich, wurde der Kirchenfürst auch in weltlichen Angelegenheiten eingesetzt. 1648, im Jahr seiner Gefangennahme durch die Schweden, wurde er wirklicher Geheimer Rat Ferdinands III. und dank kaiserlicher Unterstützung 1665, zwei Jahre vor seinem Tod, noch zum Bischof von Trient gewählt - und damit Reichsfürst. Angesichts seiner bis in die Studienzeit zurückreichenden engen Beziehungen zur Kurie und seiner fünf Romreisen, die er zwischen 1632 und 1667 als kaiserlicher Gesandter und / oder Mitglied des Kardinalskollegiums unternahm, könnte man sagen, dass seine Karriere (nicht nur geographisch) im Spannungsfeld zwischen Prag, Wien und Rom verlief.
Die anzuzeigende Quellenedition gewinnt ihren außergewöhnlichen Reiz allerdings nicht nur und nicht einmal in erster Linie aus der (durchaus beachtlichen) Karriere des Ernst Adalbert von Harrach, sondern vor allem daraus, dass sie ein in dieser Form vielleicht einzigartiges "monumentales Selbstzeugnis" (30) zugänglich macht. Im Grunde handelt es sich sogar um zwei mehr oder weniger parallele Selbstzeugnisse unterschiedlichen Charakters: Im Dezember 1629 setzt die Überlieferung der italienischsprachigen Diarien ein, die zunächst meist nur knappe Notizen zu den einzelnen Daten enthalten, ab der Romreise im Jahr 1637 aber deutlich ausführlicher werden und sich mit den Diarien anderer kaiserlicher Gesandter des 17. Jahrhunderts vergleichen lassen können. Harrach blieb aber auch nach seiner Rückkehr aus Italien bei der ausführlicheren Aufzeichnungsweise. Ebenfalls 1637 begann der Kardinal neben seinem Diarium Tagzettel in deutscher Sprache verfassen, die ihm dazu dienten, seinen Korrespondenzverpflichtungen mit einem reduzierten Aufwand nachzukommen. Die Tagzettel enthalten öffentliche und mehr private Informationen zu den unterschiedlichsten Gegenständen. Man könnte sie als persönliche geschriebene Zeitungen oder Avisi beschreiben, die der Kardinal, zum Teil mit geringen Abweichungen, seinen Korrespondentinnen und Korrespondenten zukommen ließ, um so sein soziales Netzwerk zu pflegen. Offenbar gab es als Pendant zu den deutschen Tagzetteln auch italienische "Foglietti" (48).
Ab 1637 liegt also (mit kleineren Lücken) eine Parallelüberlieferung von italienischen Diarien und deutschen Tagzetteln vor, die viele Gemeinsamkeiten, aber auch einige Unterschiede aufweisen. Im Durchschnitt sind die Tagzettel ausführlicher. Andererseits hält der Kardinal in den für die persönliche Erinnerung bestimmten Diarien auch private Dinge, wie Äußerungen eines körperlichen Unwohlseins fest, die er nicht in die Tagzettel aufnahm.
Die Diarien und Tagzettel enthalten Informationen zu den unterschiedlichsten Themenbereichen, die von Katrin Keller im Kommentarband in einigen Rubriken zusammengefasst und beispielhaft ausgeführt werden. Nicht umsonst beginnt sie mit "Adliges Alltagsleben", es folgen "Familie Harrach", "Die höfische Gesellschaft", "Konfession: Amtsausübung und Frömmigkeit", "Politik: Böhmen, Habsburg und Europa", "Kunst und adlige Repräsentation" und schließlich "Natur und Umwelt". Zu den einzelnen Rubriken gibt es Unterpunkte mit spezifischen Verweisen auf einschlägige Textstellen.
Einige willkürliche Beispiele sollen die Fülle verschiedenartiger Informationen verdeutlichen, die diese Quellen bieten. Aus dem Bereich der "hohen Politik" seien die Interna der Konklaven, an denen Harrach teilnahm (1644, 1655, 1667), hervorgehoben - diese finden sich nur in den für den persönlichen Gebrauch und nicht zur Verbreitung bestimmten Diarien (zum Beispiel für 1655 Bd. 4, 25-91). Gottesdienste und Frömmigkeitspraxis werden sehr ausführlich thematisiert. So berichtet der Kardinal im Tagzettel zum Gründonnerstag (2. April) 1665, dass er "umb 3. Die füeßwaschung in der kirchen [St. Veit] gehalten, darzue eine lateinische predig angehört, nach disem die reliquien deß tischtuechs, leilachs [=Leintuch; M.S.] und nagelß unseres Heren gekhüßet, darauf der metten beigewohnet, und endtlich ist er zu den jesuitern auf die Kleine Seiten hinab gefahren, eine ihre representation, so sie in der kirchen gehalten anzuhören" (Bd. 7, 609). Nicht zuletzt aber fließen die Informationen zum adligen Alltagsleben reichlich. Der Tagesablauf des Kardinals lässt sich sehr dicht rekonstruieren. Auch das Wetter sowie die Gesundheit des Kardinals und anderer Personen werden regelmäßig thematisiert: Am 30. September 1665 herrschte in Hagensdorf (Ahníkov) am Rand des Erzgebirges nach einem Regentag "ein sehr starckher und khalter wind"; am 1. Oktober folgte aber "ein gar schöner morgen" (Bd. 7, 687). - Natürlich werden auch Todesfälle verzeichnet.
Die Textedition wird eingeleitet durch einen Kommentar, der die Editionsprinzipien und die Überlieferungssituation darlegt sowie die dargebotenen Texte treffend charakterisiert und hinsichtlich ihrer Aussagekraft bewertet. Eingeschlossen ist eine Liste der Empfängerinnen und Empfänger der Tagzettel (50f.). Es folgen eine "politische Biografie" (58-88) und ein Itinerar (89-109) des Kardinals. Die ergänzend angebotenen "Materialien" beinhalten Kurzbiographien der wichtigsten in den Quellen genannten Personen (mit Ausnahme der regierenden Fürsten und ihrer Familienangehörigen), eine Reihe von qualitätsvollen Abbildungen, unter anderem Originale der edierten Texte, zum Teil mit eigenhändigen Zeichnungen des Kardinals (Abb. 6 und 7), und ein ausführliches, aber nicht ausuferndes Literaturverzeichnis. Nicht zu vergessen ist der zweiteilige Stammbaum der Familie Harrach in der vorderen und hinteren Innenklappe.
Von größter Bedeutung für die Benutzung der Edition sind das Personen- und das Ortsregister. Dankenswerterweise sind auch indirekte Nennungen von Personen (wie "der Sohn von XY" oder "der Kaiser") in das Register aufgenommen und zugleich im Text aufgeschlüsselt worden. Analog ist man auch bei den Orten verfahren. Verwiesen wird sinnvollerweise nicht auf Seiten, sondern auf Daten. Fett gedruckte Jahreszahlen erleichtern die rasche Orientierung. Dabei wird zwischen Nennungen in den Diarien (Jahreszahl kursiv, römische Zahlen für die Monate) und den Tagzetteln (Jahreszahl recte, deutsche Monatsnamen) unterschieden. Vielleicht wäre es noch übersichtlicher gewesen, die Fundstellen bei den Diarien komplett kursiv anzugeben. Wie der Rezensent anhand einiger Stichproben erfahren durfte, ist das Register - und damit letztlich die ganze Edition - aber sehr gut benutzbar.
Der Herausgeberin und dem Herausgeber ist zu danken, dass sie diese Quellen in dem für ein solches Großprojekt sehr überschaubaren Zeitraum von vier Jahren für den Druck aufbereitet und somit der Forschung zugänglich gemacht haben. Das war natürlich nur möglich unter Verzicht auf einen umfangreichen wissenschaftlichen Apparat; stattdessen finden sich lediglich knappe Angaben zu Korrekturen, Textvarianten etc. Außerdem werden im Text, wie angedeutet, in eckigen Klammern die genannten Personen und Orte aufgeschlüsselt.
Man hätte sich freilich wünschen mögen, dass die Texte in Form einer frei zugänglichen Online-Edition mit ihren zusätzlichen Recherchemöglichkeiten erschienen wären, denn der stolze Preis dürfte der Verbreitung der sieben Bände in Zeiten knapper Kassen (leider) Grenzen setzen. Es ist aber zu hoffen, dass diese vielfältig zu nutzende Quellenedition künftig dennoch in zahlreichen Seminar- und Forschungsbibliotheken zu finden sein wird.
Matthias Schnettger