Christian Volkmar Witt: Protestanten. Das Werden eines Integrationsbegriffs in der Frühen Neuzeit (= Beiträge zur historischen Theologie; 163), Tübingen: Mohr Siebeck 2011, XI + 310 S., ISBN 978-3-16-150951-3, EUR 84,00
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In seiner Dissertation untersucht Christian Volkmar Witt die Genese bzw. Konstruktion des Begriffs Protestanten / Protestierende, seine Funktion in den konfessionellen Auseinandersetzungen im Reich des 16. und 17. Jahrhunderts und seine Interpretation sowie Inanspruchnahme durch die jeweiligen Protagonisten beider Lager. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Entwicklung und Rezeption in seinem "integrativen Sinn" (19) im 17. Jahrhundert, als der Terminus nicht mehr nur "als bloße Selbstbezeichnung" (ebenda) gebraucht wurde, sondern eine (teilweise) konfessionelle Zusammengehörigkeit oder Verwandtschaft ausdrücken sollte.
Der kurze Abriss in der Einleitung zur bisherigen begriffsgeschichtlichen Forschung offenbart gleich deren Manko: Zahlreiche Quellen aus über 100 Jahren wurden bislang im Hinblick auf die Entwicklung der Terminologie nicht berücksichtigt. Christian Witt erweitert nun die Quellengrundlage auf (kontrovers-)theologische Schriften aus der Zeit der sogenannten Pfälzischen Irenik über den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Frieden bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts - allesamt aus dem deutschsprachigen Raum stammende "Literatur lutherischer und reformierter Provenienz" (18). Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, die Vorgehensweise des Autors und dessen akribische Interpretation der Quellen in allen Einzelheiten zu würdigen, weshalb hier nur die großen Linien und Ergebnisse nachgezeichnet werden können.
Die Exklusivität des Begriffs Protestanten (wobei "exklusiv" hier im "Kontext des Gegenübers von Reformierten und Lutheranern" [258] zu verstehen ist) wurde zum ersten Mal von in kurpfälzischen Diensten stehenden reformierten Theologen vor dem Hintergrund des drohenden Ausschlusses vom Augsburger Religionsfrieden aufgebrochen. Sie behaupteten ihre Zugehörigkeit zum Augsburger Bekenntnis, was freilich eine Ausweitung der hergebrachten Deutung von Protestierenden auch auf "terminologischer Ebene" (259) war, und untermauerten damit ihren Anspruch auf den "rechtlich unanfechtbar[en]" (66) Schutz des Religionsfriedens. Dabei argumentierten die pfälzischen Theologen - später auch die anderer reformierter Territorien - mit einer integrativen Begrifflichkeit, die Reformierte und Lutheraner als Augsburger Konfessionsverwandte zusammenfasste. Die Reaktion der lutherischen Gelehrten auf diese Provokation blieb nicht aus: Zum einen hielten sie an ihrem Alleinanspruch auf die Confessio Augustana, und hier insbesondere auf die Fassung der Invariata, die wegen "ihrer Abendmahlslehre für die Reformierten schlechterdings unannehmbar war" (263), fest, zum anderen bezeichneten sie exklusiv die eigene Konfessionspartei als Protestanten.
Der Westfälische Frieden, der die Reformierten als dritte Konfession reichsrechtlich anerkannte, markierte eine "terminologiegeschichtliche Zäsur" (255), findet sich im Text des Osnabrücker Friedensvertrags doch "eine zweifellos als integrativ zu deutende Verwendung von protestantes" (ebenda). Die Formulierungen des Vertragstextes ließen einen großen Interpretationsspielraum zu, wer nun als legitime Augsburger Konfessionsverwandte gelten konnte. Diese Tatsache schuf zwar den Boden für eine Akzeptanz des Friedensschlusses, beendete aber keineswegs den Streit um die "Inanspruchnahme der CA für und durch die Reformierten" (265).
Während die Lutheraner ihre ablehnende Haltung auch terminologisch konsequent beibehielten, führten die Reformierten ein theologisches 'Prinzipalstück' ins Feld, die Lehre von den Fundamentalartikeln, was nichts anderes bedeutete, als die Behauptung, "in den heilsnotwendigen Lehrpunkten herrsche völlige Übereinstimmung mit dem Luthertum" (266, siehe auch 40f.). Diese Linie wurde nach 1648 besonders stark verfolgt, da die reformierte Partei, geschützt durch den Religionsfrieden, nun nicht mehr auf die Bekenntnisschriften und den Nachweis ihrer Augsburger Konfessionsverwandtschaft rekurrierte, sondern nur die Heilige Schrift als "Maßstab für die Bewertung der Orthodoxie" (266, vgl. 160) und damit als "inhaltliches Fundament für die integrative Terminologie" (161) hernahm.
Aufseiten der lutherischen Partei lässt sich mit Georg Calixt und insbesondere seinen Schülern - zu nennen ist hier der Sohn, Friedrich Ulrich Calixt, der der Aussöhnung von Reformierten und Lutheranern einige Schriften widmete (vgl. 188-192) - eine irenische Haltung ausmachen. Mit ihnen wurde die integrative Verwendung des Begriffs Protestierende in das deutsche Luthertum eingeführt - jedoch ausschließlich, wenn es um eine "Annäherung, wenn nicht sogar Vereinigung" (269) beider Konfessionen ging.
Eine weitere irenische Strömung innerhalb des Luthertums nahm in den Ideen zweier Vertreter des Pietismus, Philipp Jakob Spener und Gottfried Arnold, seinen Anfang. Bemerkenswert bei Spener war, dass er zwar den Terminus "Evangelische" exklusiv für die eigene Konfession nutzte, "eine Vereinigung von Lutheranern und Reformierten [... aber] auf lange Sicht [...] für realisierbar" (207f.) hielt - wiederum auf der Grundlage der Lehre von den Fundamentalartikeln und schließlich auch mit der integrativen Verwendung des Begriffs Protestierende. Spener schlug darüber hinaus theologiegeschichtlich neue Wege ein, indem er die Frage nach der Rechtgläubigkeit nicht mehr mit derjenigen "nach der konstitutiven Bekenntnisschrift" (211) gleichsetzte und eine gegenseitige Akzeptanz im alltäglichen liturgischen Vollzug diskutierte. Noch weiter ging Gottfried Arnold, der "alle konfessionellen Bindungen transzendierte" (270) und die Bekenntnisschriften als Resultat der "Selbst- und Streitlust der Gelehrten [sah], die in ihrer unchristlichen Eigenliebe" einzig und allein nach "Geltung und Macht" (270f.) strebten. Die Bindung der Wahrheits- an die Bekenntnisfrage, wie sie beide Konfessionsparteien in ihren Bekenntnisschriften verfochten - nur in diesem Zusammenhang gebraucht Arnold die Bezeichnung Protestanten integrativ -, sei eine der Ursachen für die Spaltung und den Verfall des Christentums.
Mit seiner Untersuchung der terminologiegeschichtlichen Entwicklung von Protestanten / Protestierende kann Christian Volkmar Witt letztlich auch die in der Forschung oft vertretene These widerlegen, die integrative Verwendung der Begriffe habe über England und andere Teile Westeuropas Einzug ins Reich gehalten. Ausgehend von der Inanspruchnahme der Augsburger Konfessionsverwandtschaft seitens der Reformierten in Kombination mit der Behauptung der Übereinstimmung mit den Lutheranern in bestimmten Fundamentallehren gipfelte die Entschränkung des Integrationsbegriffs im 18. Jahrhundert in der "Überwindung der protestantischen Orthodoxie und des von ihr geprägten Bezuges zu den Bekenntnisschriften" (276) - basierend auf der "Mentalitäts- und Wahrnehmungsverschiebung" (275) in den Denkansätzen Speners und Arnolds.
Christian Volkmar Witts Dissertation ist eine grundlegende Studie, die dem bislang unscharfen Bild der Geschichte und Verwendung des Begriffs Protestanten / Protestierende, wie es sich in der Zusammenschau der bisherigen Forschungen offenbart, neue Konturen verleiht. Durch die Erweiterung der Quellenbasis, eigentlich die Betrachtung bekannter Quellen unter einem neuen Blickwinkel, sowie deren ausführliche Analyse und Auswertung in Bezug auf ihren terminologiegeschichtlichen Nutzen füllt die Untersuchung die Lücke zwischen der Verwendung des Terminus Protestanten als konfessionspolitisch-taktischer Kampfbegriff und dem im Zuge der Aufklärung ersten Schritt hin zum heutigen Sprachgebrauch.
Simone Buckreus