Silvio Reichelt: Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg. Genese, Entwicklung und Bestand eines protestantischen Erinnerungsortes (= Refo500 Academic Studies; Bd. 11), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 448 S., 61 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-55054-0, EUR 99,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Dagmar Pöpping: Nachrichten aus der Politik. Die Lageberichte Hermann Kunsts für den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1951-1977, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023
Cornelia von Ruthendorf-Przewoski: Der Prager Frühling und die evangelischen Kirchen in der DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Joachim Bahlcke / Beate Störtkuhl / Matthias Weber (Hgg.): Der Luthereffekt im östlichen Europa. Geschichte - Kultur - Erinnerung, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
Hans Nordsiek (Bearb.): Die Kirchenvisitationsprotokolle des Fürstentums Minden von 1650. Mit einer Untersuchung zur Entstehung der mittelalterlichen Pfarrkirchen und zur Entwicklung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Minden, Münster: Aschendorff 2013
Katrin Keller: Kurfürstin Anna von Sachsen. 1532-1585, Regensburg: Friedrich Pustet 2010
Katrin Keller: Erzherzogin Maria von Innerösterreich (1551-1608). Zwischen Habsburg und Wittelsbach, Wien: Böhlau 2012
Christian Volkmar Witt: Protestanten. Das Werden eines Integrationsbegriffs in der Frühen Neuzeit, Tübingen: Mohr Siebeck 2011
Die Lutherstadt Wittenberg als Wiege der Reformation und "Symbolort des Protestantismus" (13) zeichnet sich durch ihre fast 500-jährige, ununterbrochen praktizierte Erinnerungskultur aus. Silvio Reichelt untersucht in seiner Dissertation an diesem konkreten Ort die wechselseitige Verschränkung von "historische[r] Erinnerung, kulturelle[m] Selbstverständnis und soziale[r] Praxis" (399) vom Lutherjubiläum 1883 bis in die Gegenwart des wiedervereinten Deutschlands. Reichelts Analyse des protestantischen Erinnerungsorts über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren schließt gleich fünf unterschiedliche politische Systeme ein. Wie ein roter Faden zieht sich deshalb die Frage nach dem Umgang mit bzw. der Nutzbarmachung oder Inanspruchnahme der reformatorischen Vergangenheit durch die gesamte Arbeit und offenbart den "konstruierten Charakter von historischer Erinnerung" (16) in Zeiten politischer und gesellschaftlicher Veränderungen.
Ausgangspunkt ist das 1883 begangene Lutherjubiläum, das durch die Ausweitung der Feierlichkeiten, die Teilnahme zahlreicher auswärtiger Besucher sowie die Eröffnung des Lutherhauses als öffentlich zugängliches Museum eine "einschneidende Zäsur im Umgang mit dem reformationsgeschichtlichen Erbe" (ebd.) markiert. Treibende Kräfte hinter dem Ausbau Wittenbergs zur Denkmallandschaft und "nationalen Erinnerungsstätte" (31) waren neben dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Engagement, das materielle Erbe der Vergangenheit zu bewahren, das Interesse der Hohenzollern, ihren Führungs- und Herrschaftsanspruchs "symbolpolitisch" (ebd.) abzusichern und sich als "Schutzherren der gesamten evangelischen Christenheit Deutschlands" (41) zu präsentieren.
Nach dem Untergang des Kaiserreichs konzentrierte man sich auf die städtische Selbstdarstellung und schuf mit der Rückbesinnung auf den Ursprung der reformatorischen Bewegung im 16. Jahrhundert eine Orientierungshilfe und ein neues Selbstverständnis, das auf Tradition basierte und gleichzeitig den "Anspruch auf Zukunftsfähigkeit und Fortdauer" (126) beinhaltete. Die "Historisierung des Stadtraums" (401) und die damit einhergehende beworbene Authentizität bzw. historische Aura der reformatorischen Stätten durch ein gezieltes Stadtmarketing trugen der Erwartungshaltung der Touristen Rechnung und schufen "einen Erlebnisraum großer emotionaler Dichte" (ebd.).
In der Zeit des Nationalsozialismus stand in Wittenberg nicht mehr die 'echte', authentische Reformationsbewegung im Fokus der Erinnerungspraxis, sondern es wurde eine mythische Erneuerung beschworen, die ganz auf die Würdigung Luthers als "heroischer Tatenmensch" (403) abzielte - durchaus mit Parallelen zu Hitler (196ff.). Die Jubiläumsfeierlichkeiten, nun ergänzt um eine Massenkundgebung für die Wittenberger Jugend und einen Fackelzug, dienten dazu, eine gleichartig fühlende und handelnde "Volksgemeinschaft" (214) herzustellen. Die Professionalisierung des Fremdenverkehrs, der sich zunehmend zu einem "kirchenfernen Massentourismus" (402) entwickelte, ging Hand in Hand mit der Öffnung des Luthermuseums für neue gesellschaftliche Zielgruppen u.a. mit Hilfe moderner Medien und Sonderausstellungen.
Wissenschaft und Fortschritt statt Tradition standen in den ersten Jahrzehnten der DDR im Vordergrund. Wittenberg sollte zu einer modernen Industriestadt werden, was sich am deutlichsten in der Errichtung eines Chemiepavillons äußerte, der "absichtlich als Fremdkörper" (281) in das historische Schlossplatz-Ensemble gesetzt wurde. Der sozialistische Festumzug zum 450-jährigen Reformationsjubiläum geriet zu einem fiktiven Spiel auf der Grundlage eines politisch konzeptionierten Drehbuchs. Ab den 1970er- und verstärkt den 1980er-Jahren setzte man allerdings wieder auf eine Denkmalpolitik des Bewahrens, da sich die Versuche, aus der Luther- eine Chemiestadt zu machen, nicht "dauerhaft mit den etablierten Wittenbergbildern" (404) vereinbaren ließen. Die Formierung der Wittenberger Friedensbewegung ab 1983 bis in den Herbst 1989 zeigt, dass "die Reformationserinnerung nach wie vor eine sinnstiftende Kraft entfalten konnte" (ebd.)
Seit 1990 verschärft sich schließlich für Wittenberg die Tendenz einer politisch und religiös "bedeutungsleeren Unterhaltungsorientierung" (ebd.), da zum einen aufgrund des stetig schwindenden Einflusses des Protestantismus das städtische Selbstbild nicht mehr konfessionell begründet ist, zum anderen die Touristen eine Geschichte zum Anfassen einfordern, weshalb die Stadt immer mehr zu einem "begehbaren [reformationsgeschichtlichen] Freilichtmuseum" (371) mutiert. Die 'heritage industry' konzentriert sich dabei ganz auf die Person des Hauptreformators, was sowohl in der Festkultur als auch in der touristischen Vermarktung der Lutherstadt zum Ausdruck kommt.
Silvio Reichelt stützt sich in erster Linie auf die Quellenbestände der kommunalen, musealen und kirchlichen Archive, die zeitgenössische Berichterstattung in der Lokalpresse sowie die touristischen Veröffentlichungen und Festschriften zu den zahlreichen Jubiläen. Ergänzend greift er auf Untersuchungen zu einzelnen Aspekten der auf Wittenberg bezogenen Denkmalforschung und schließlich auf die jüngsten Forschungen zur Fest- und Jubiläumskultur zurück. Das eigentliche Gerüst der Arbeit bilden aber die verschiedenen theoretischen Ansätze zum kollektiven Gedächtnis, zu Erinnerungsprozessen- und Erinnerungskultur und zum von Manfred Hettling entwickelten Konzept des Erlebnisraums - Letzteres als übergeordnete Deutungskategorie, über die die "verschiedenen Ausdrucksformen des kulturellen Gedächtnisses als integrative Bestandteile kollektiver Erinnerung erfasst, beschrieben und analysiert werden" (22). Für Reichelts 'ganzheitliche' Betrachtung von Raum und Erinnerung am konkreten Beispiel Wittenberg ist dieser methodische Zugriff sinnvoll, da er Prozesse und Mechanismen, die mit sich wandelnder Erinnerungspraxis einhergehen, sichtbar macht, was die auf die Lutherstadt bezogenen Forschung bislang nur partiell leisten konnte. Insbesondere die Ausweitung des Begriffs 'Erinnerungsort' auf das die persönliche Erfahrung und "affektive Auseinandersetzung des Menschen mit dem Raum" (20) einbeziehende Konzept des 'Erlebnisraums' erweist sich als erkenntnisfördernd, so zum Beispiel bei der Berücksichtigung der touristischen Perspektive.
Die in einigen Kapiteln lediglich angerissenen Überlegungen zu städtischen Geschichtsbildern, Identitäten oder zur Stadtplanung (z.B. 142; 280f.; 357ff.; 365, 371ff.), die wichtige Impulse zur weiteren Analyse geben, drohen allerdings in dem Sammelbegriff des Um- und Ausbaus der 'Denkmallandschaft' unterzugehen. Neben der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung hätten die Ansätze der Städtebauforschung oder Stadtentwicklung als zweiter theoretischer Stützpfeiler etwas mehr Raum verdient. Wünschenswert und hilfreich wäre darüber hinaus auch eine kurze Zusammenfassung am Ende jedes Hauptkapitels gewesen, da man aufgrund der Fülle an Informationen und Teilergebnissen sowie der Tendenz des Autors zu bisweilen komplizierten, theorielastigen Formulierungen manchmal den Überblick verliert.
Insgesamt hat Silvio Reichelt eine Arbeit vorgelegt, deren - zwar nicht neuer, aber für diesen Untersuchungsgegenstand erstmalig umfassend erfolgter - methodischer Zugriff es ermöglicht, in unterschiedlichen politischen Systemen und Ideologien konstante und sich verändernde Aspekte von Erinnerung(spraxis) aufzuzeigen. Diese geben Aufschlüsse über die Motivationen und Techniken gesellschaftlicher Gruppen, eine bestimmte Vergangenheit im Erlebnis identitäts- und sinnstiftend zu vergegenwärtigen und für die jeweilige Gegenwart nutzbar zu machen - bis hin zur reinen Musealisierung eines materiell verfassten Erinnerungsorts für dessen Bewohner und Besucher.
Simone Buckreus