Bénédicte Savoy: Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen. Mit einem Katalog der Kunstwerke aus deutschen Sammlungen im Musée Napoléon, Wien: Böhlau 2011, 564 S., eine CD-Rom, zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-205-78427-2, EUR 49,00
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Die hier angezeigte Publikation ist die um Abbildungen bereicherte deutsche Übersetzung (Tom Heithoff) eines 2003 erschienenen französischen Buches von Bénédicte Savoy, Professorin für Kunstgeschichte am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der Technischen Universität Berlin. [1] Die aus Savoys Dissertation hervorgegangene Arbeit bestand aus zwei Bänden. Statt des zweiten Bandes findet der begeisterte Leser hier eine CD-ROM (mit Volltextsuche!): die virtuelle Rekonstruktion der 1807/08 im Louvre gezeigten Ausstellung von Werken, die in Deutschland von Franzosen beschlagnahmt worden waren. Der französische Originaltitel "Patrimoine annexé", also "Annektiertes Kulturerbe", fasst den Fokus dieses beeindruckenden Werkes genauer als die deutsche Bezeichnung. Tatsächlich oszilliert die faktengesättigte und detailreiche, gleichwohl spannend und mitreißend zu lesende Studie im Spannungsfeld zwischen kulturellem Erbe, Tradition und der Etablierung einer nationalen Identität, die - wie in den letzten Jahren immer wieder betont wurde - aus dem Zusammenspiel dieser Triade erst entstand. Savoy, welche 2010/11 auch die große Ausstellung "Napoleon - Traum und Trauma" in der Bundeskunsthalle Bonn kuratiert und damit gesamteuropäische Fragen in den Blick genommen hat, wendet sich hier einem spezielleren Problemfeld zu. [2]
In der Einleitung benennt sie als Leitfrage: "Sind die von Frankreich in Deutschland durchgeführten massenhaften Transfers von Kunstwerken und Büchern auch zur Grundlage eines tieferen Kulturtransfers geworden? Und kann dieser Kulturtransfer, wenn er denn stattgefunden hat, zu einem besseren Verständnis der gemeinsamen Basis der europäischen Geschichte beitragen?" (20) Im Gegensatz zu der Originalausgabe fokussiert der deutsche Untertitel dezidiert auf den Kunstraub in der napoleonischen Ära. Dies ist in doppeltem Sinne - nämlich historisch wie in Hinblick auf das Buch - falsch. Denn: Die Annektionen künstlerischer Hinterlassenschaften (und Savoy beschränkt sich hier nicht etwa auf die "klassischen" Betrachtungsfelder der "Hochkunst", sondern bezieht ganz selbstverständlich Handschriften, Bücher, kunstgewerbliche Erzeugnisse, Schmuck, etc. ein), begann bereits 1794 im revolutionären Frankreich. Napoleon griff ab 1796 also auf eine bereits etablierte Form staatlich sanktionierter Aneignung von Kulturgütern zurück. Obschon ohne die idealistische Beseelung, welche die Revolution zumindest in ihrer Anfangszeit getragen hatte, instrumentalisierte Napoleon als Konsul und später als Kaiser zudem das pathetisierte Freiheitspostulat, um die organisierte Aneignung kultureller Güter in den besetzten Gebieten rhetorisch zu verbrämen: "Der ideologische Hintergrund dieser Operationen besagte, dass die unter dem Joch des Despotismus leidenden Meisterwerke der Kunst im Ausland eine Art von Exil fristeten und dass die Revolution die Kunstwerke, indem sie sie in die Heimat der Freiheit rufe, dem Leben zurückgebe." (28) Inwieweit diese antiabsolutistische Erlösungsrhetorik der gewissermaßen "selbsttätig" nach Frankreich sich begebenden Kunstwerke von den Verantwortlichen je geglaubt wurde, lässt sich heute natürlich nicht mehr entscheiden.
Obschon organisierter Kulturraub damals in ganz Europa durchgeführt wurde, konzentriert sich die Autorin auf das Deutsche Reich: "Deutschland oder vielmehr der deutschsprachige Raum mit seinen vielen Staaten, Österreich eingeschlossen, und seiner Vielzahl an Galerien und fürstlichen Bibliotheken - dieses Deutschland [...] ist der einzige europäische Kulturraum, der alle Phasen der Beschlagnahmungen seit dem Jahre II der revolutionären Zeitrechnung erfahren hat. Unter der Konvention von 1794 bekamen die rheinischen Städte zusammen mit den vereinigten Provinzen die Folgen der Doktrin der "befreiten Kulturschätze" als Erste zu spüren." (17) Darüber hinaus richtet Savoy ihre Aufmerksamkeit "auf die Konfiszierungen, die von den jeweiligen französischen Regierungen offiziell angeordnet und die Wiederaneignungen von Kunstwerken, die von den deutschen Herrschern autorisiert worden sind." (18) Sie schließt damit Raubakte von Privatpersonen oder im Rahmen kriegerischer Handlungen durchgeführte Plünderungen aus - zu Recht, denn diese sind so alt wie die Menschheit selbst und es ist gerade der offizielle und programmatische Charakter in dem hier in den Blick genommenen Zeitraum, der von früheren Annektionen divergiert.
Savoy versucht sich ihrer Leitfrage nach dem "Kulturtransfer" in den drei Hauptteilen "Akteure", "Meinungen" und "Objekte" zu nähren. Ereignisse werden im Rahmen dieser übergreifenden Struktur weitgehend, jedoch nicht streng in chronologischer Ordnung betrachtet. Durch die wechselnden Perspektiven kommen zudem dieselben Begebenheiten mehrfach in den Fokus, werden einzelne Raubtaten, aber auch die Beweggründe der Handelnden fass- und bisweilen auch verstehbar.
Unter den in vier Fallstudien beleuchteten deutschen und französischen "Akteuren" sticht natürlich Napoleons "Kunstbeauftragter" Dominique-Vivant Denon besonders hervor. Das "Auge Napoleons" (117-148) ließ in Berlin die Quadriga abbauen, in Braunschweig Majoliken aus Limoges beschlagnahmen, in Wolfenbüttel wertvolle Handschriften durch Henri Beyle konfiszieren, der später als Stendhal berühmt werden sollte. Die in ganz Europa zusammengetragenen "befreiten" Werke wurden unter seiner Federführung sodann im Louvre einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert.
Im zweiten Kapitel des Buches - "Meinungen" - geht es dann vor allen Dingen um die Einschätzung der Ereignisse und des Kulturraubes, dabei werden aufeinander folgende Phasen einer Beurteilung der Raubpolitik deutlich. Savoy betrachtet als Schwerpunkte zunächst den Zeitraum bis 1807 - der Ausstellung der Beutekunst aus Deutschland im Louvre - und sodann die veränderten deutschen Reaktionen angesichts des Kampfes und des letztlichen Sieges über den französischen Kaiser 1814/15. Schließlich beleuchtet sie die Einschätzung des staatlich organisierten Kunstraubs bis 1940 und vor allem an den neuralgischen Punkten 1870/71 und dem ersten Weltkrieg.
Verblüffend aus heutiger Sicht ist die Tatsache, dass die Eroberten und Beraubten erst im Laufe der napoleonischen Besatzung ein Bewusstsein dafür entwickelten, dass ihnen nicht nur Artefakte genommen worden waren, sondern mit diesen auch konstituierende Bestandteile ihrer nationalen Identität, die an diesem Punkt entsteht. Folgerichtig forderten die Sieger vom besiegten Frankreich ihre Kulturgüter zurück; dynastische Kunst wird hier erstmals nationaler Besitz und Erbe.
Wie im dritten Teil über "Objekte" ersichtlich, wandelte sich auch die Ästhetik. Und dies nicht allein durch die vom Geist des Freiheitskampfes beförderte Mittelalter-Begeisterung in Deutschland, die den Fokus des kunsthistorischen Interesses von der italienischen Renaissance nach Norden verlagerte: Die Einbindung von konfiszierten Werken in das Musée Napoléon und ihre Präsentation 1807 veränderte beispielsweise den kunsthistorischen Status der altdeutschen Malerei um Dürer, Holbein oder Cranach, deren Werke anschließend in den Rang nationaler Kulturgüter rückten.
An diesem Punkt wird die von Savoy postulierte Verbindung zwischen Kunstraub und der Generierung einer Vorstellung von "nationalem Kulturerbe" greifbar und ebenso das - vielleicht euphemistisch benannte? - Problemfeld eines "Kulturtransfers": das Dreieck von Deutschland nach Frankreich, die Präsentation der annektierten Werke (wiewohl natürlich nur eines verschwindend kleinen Teils), die Diskussion um diese und schließlich ihre Restitution. Diese erfolgte - wie im Fall der Berliner Quadriga - in Form eines Triumphzuges, der gemeinsam Erlittenes und Erreichtes in symbolischer Form zum Ausdruck brachte, und die "der 'Raubgier der Franzosen' entrissenen" Werke zum Teil in Sonderausstellungen der Öffentlichkeit vorführte (386).
Savoys Studie besticht durch sprachliche Präzision und stets spannungsvolle Darstellung, die das Buch zu einem quellen- und faktengesättigten Leseerlebnis machen. Nach Endnoten, Quellen- und Literaturverzeichnis folgt ein Buch wie CD-ROM erfassendes Personenregister. Einschätzungen und Interpretationen der Autorin sind in den Text integriert, allerdings fällt das Fazit mit drei Seiten bedauerlich kurz aus. Hier wäre eine nochmalige Auffächerung und Verknüpfung der vielfältigen und divergenten Einzelaspekte wünschenswert gewesen.
Die Untersuchung sowie die Rekonstruktion der folgenreichen, 1807-08 im Louvre ausgerichteten Ausstellung regen an zum Nachdenken und Weiterforschen. Das hier angezeigte Werk ist ein Standardwerk für künftige Untersuchungen der Kunst- und Kulturpolitik um 1800, bietet aber auch Anknüpfungspunkte für Studien von "Beutekunst" späterer Zeiten.
Anmerkungen:
[1] Bénédicte Savoy: Patrimoine annexé. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800 (= "Passages / Passagen", Deutsches Forum für Kunstgeschichte, 5), 2 Bde., Paris 2003.
[2] Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik in Bonn (Hg.): Napoleon und Europa. Traum und Trauma, München 2010. Vgl. den dortigen Literaturüberblick von Luigi Mascalli Migliorini zum neueren Forschungsstand, 29-33.
Ekaterini Kepetzis