Andreas Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München: C.H.Beck 2012, 487 S., 26 Abb., 13 Grafiken, 10 Tabellen, ISBN 978-3-406-63252-5, EUR 26,95
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Dass sich ein Historiker die Aufgabe stellt, die Geschichte Europas der letzten zwanzig Jahre zu schreiben, ist lobenswert und mutig. Lobenswert im Hinblick auf die öffentliche Sichtbarkeit des Fachs, denn damit überlässt er die Zeitdiagnose nicht allein den Volkswirten, Politologen und Soziologen. Mutig, weil er nur auf vereinzelte historische Forschung aufbauen kann und sich so dem Vorwurf aussetzt, nicht mehr als die Sicht des informierten Zeitungslesers zu Papier zu bringen. Nicht zuletzt ist es mutig, ganz Europa zu betrachten.
Andreas Wirsching legt eine umfassende und klar strukturierte Zusammenschau der Geschichte des gesamten wiedervereinigten Kontinents seit 1989 vor. Er unterstreicht Kontinuitätslinien, die bis in die späten 1970er Jahren zurückreichen, insbesondere im Bereich der Wirtschaft.
Der Autor deutet die Geschichte Europas seit 1989 als eine Geschichte der zunehmenden Freiheit - politischer Freiheit nach dem Fall des Kommunismus und wirtschaftlicher Freiheit durch zunehmende Liberalisierung. Leider verzichtet der Autor darauf, seinen Freiheitsbegriff explizit zu definieren, Freiheit beispielsweise von ihren Gegenbegriffen abzugrenzen. Wirsching problematisiert nicht, wer sich für bestimmte Freiheiten einsetzte, für wen diese galten und wer von ihnen profitierte. Eine solche konzeptionelle Diskussion hätte nahegelegt, den Freiheitsbegriff und dessen politisch-rhetorische Konstruktion in der Wirtschaftspolitik stärker zu hinterfragen. [1] Wirsching ist aber kein Marktradikaler. Auch wenn er den liberalen Begriff von Freiheit der Märkte von staatlichen Regeln übernimmt, streicht er deutlich die negativen Konsequenzen der Liberalisierung heraus. Dies ist auch sein Kernargument: Die zunehmende politische und wirtschaftliche Freiheit der vergangenen zwanzig Jahre hat ihren Preis.
Neben der Dialektik von Freiheit und ihren Kosten sieht Wirsching zwei weitere dialektische Entwicklungen am Werk: Erstens, die Konvergenz und Angleichung in der europäischen Gesellschaft durch zunehmende Austauschprozesse - wie sie Hartmut Kaelble immer wieder hervorgehoben hat - gehe einher mit zunehmender Fragmentierung, z.B. der Stärkung des Regionalismus. Zweitens nimmt er das föderalistische Argument einer Dialektik von Krise und Fortschritt in der Europäischen Integration auf. Europas Krisen führten zu "mehr Europa" (18).
Wirschings Erklärungsmodell ist dabei eleganter als die teleologischen linearen Fortschrittsnarrative, vor denen er an verschiedener Stelle warnt. Stattdessen sieht er eine Pfadabhängigkeit. In Krisen könne die europäische Politik sich nur Lösungen vorstellen, die innerhalb der existierenden europäischen Institutionenstrukturen lägen. Dies schlösse andere Möglichkeiten aus und stärke so die supranationale Integration. Wirsching kombiniert dieses Argument aus der neoinstitutionalistischen Politikwissenschaft mit einem konstruktivistischen. Ihre eigene Europa-Rhetorik führe zu einer Selbstbindung der Regierungen. Andere Lösungen erschienen damit nicht mehr legitim (190f.).
Wirschings Buch verfolgt diese Leitideen in fünf großen thematischen Abschnitten. Er beginnt mit der "demokratischen Revolution 1989/90" und ordnet sie in den globalen Trend zur Demokratie ein. Nur hier diskutiert er die Entwicklung in der Sowjetunion, die ansonsten ebenso wenig als Teil Europas gilt wie die Türkei. Gleichberechtigt behandelt er die nationale und demokratische Revolution in Osteuropa und die Reaktionen im Westen, sowie die deutsch-deutsche Erfahrung.
Im zweiten Abschnitt über "das östliche Europa in den 1990er Jahren" kontrastiert er dialektisch die friedliche Entwicklung zu Nationalstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft mit "Europas jugoslawischer Katastrophe". Er erinnert daran, dass der Staatszerfall Jugoslawiens, die ethnische Mobilisierung und die Eskalation der Gewalt auf westlicher Seite lange Zeit nur hilflose Reaktionen auslösten. Diese Geschichte endet trotz allem mit der Aufhebung der Dialektik durch "Sühne" vor dem neu geschaffenen Haager Strafgerichtshof. Damit habe sich Europas Pariastaat Serbien schließlich auf den Weg zurück "nach Europa" (152) begeben, wie Wirsching nicht ohne Pathos anmerkt.
Hieran anschließend behandelt der dritte Abschnitt ausführlich die Entwicklung der Europäischen Union (EU). Angesichts der zunehmenden Bedeutung der EU ist dies vollständig angemessen, aber bemerkenswert, weil in vielen Geschichten Europas die Existenz der EU und ihrer Vorgänger fast völlig ignoriert wird.[2] Wirschings Blick ist auch hier vom dialektischen Gegenüber der Nationalstaaten und der supranationalen Institutionen geprägt (176). Der in dieser Zeit stark zunehmende Einfluss (zivil-)gesellschaftlicher Akteure fehlt in seiner Betrachtung. Der Autor verweist allerdings auf die Bedeutung einer europäischen Öffentlichkeit im Verfassungsprozess (183) und den zunehmenden Euroskeptizismus. Neben der inneren Entwicklung widmet er sich ausführlich der Genese der gemeinsamen Außenpolitik.
In Abschnitt vier diskutiert er in klassisch sozialgeschichtlicher Manier wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturveränderungen, die er als Reaktion auf die "Herausforderungen der Globalisierung" begreift. Schon unter dem Eindruck der aktuellen Wirtschaftskrise geschrieben leistet sein historischer Blick auf die Wirtschaft einen relevanten Beitrag zur aktuellen Diskussion, ebenso wie der knappe Überblick über die Finanzkrise im Schlussteil. Der fünfte Abschnitt widmet sich schließlich den gesellschaftlichen Selbstvergewisserungsdebatten - Fragen von räumlichen und kulturellen Grenzen, z.B. gegenüber der Türkei und dem Islam, sowie den Geschichts- und Gedächtnisdiskursen. Auch der sich wandelnde Blick von außen auf Europa fehlt hier nicht.
Insgesamt überzeugt Wirsching, dass es sich sehr lohnt, wenn ein Historiker sich der jüngsten Geschichte annimmt. Die zugrundeliegende dialektische Betrachtungsweise ermöglicht es ihm, die vielfältigen europäischen Entwicklungen in ein sinnvolles und angenehm lesbares Narrativ zu übersetzen. Sie hat aber ihren Preis, denn ihr tertium non datur schafft systematisch blinde Flecken. Es irritieren zudem einige unaufgelöste Widersprüche. Während Wirsching wiederholt vor Teleologien warnt, greift er mit dem Pfadabhängigkeitsmodell auf eine struktur-deterministische Erklärung zurück. Der Warnung vor Teleologie widerspricht auch eine manchmal determistische Wortwahl, wenn er z.B. den Lissabonner Vertrag der "Macht einer als zwingend erkannten Notwendigkeit" (189) zuschreibt. Sein oft emphatischer Gebrauch der Kollektivsingulare Europa und Nation (die "endlich ihre freie Entfaltung" "begehrte") (79), irritiert und widerspricht seiner sehr überzeugenden konstruktivistischen Analyse, die genau dies zu überwinden sucht. Dies mindert unnötigerweise das Lesevergnügen eines wichtigen Buches, das uns mutig einen sehr umfassenden ersten Überblick über die noch zu schreibende Geschichte dieser Zeit gibt.
Anmerkungen:
[1] Matthias Schmelzer: Freiheit für Wechselkurse und Kapital. Die Ursprünge neoliberaler Währungspolitik und die Mont Pélerin Society, Marburg 2010.
[2] S. z. B. Wolfram Kaiser: From Isolation to Centrality. Contemporary History meets European Studies, in: ders. / Antonio Varsori (Hgg.): European Union History: Themes and Debates, Basingstoke 2010, 45-65, 47.
Jan-Henrik Meyer