Detlef Schmiechen-Ackermann / Christian Hellwig / Wienke Stegmann et al (Hgg.): Der Gorleben-Treck 1979. Anti-Atom-Protest als soziale Bewegung und demokratischer Lernprozess (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Bd. 309), Göttingen: Wallstein 2020, 367 S., 74 Abb., ISBN 978-3-8353-3793-0, EUR 29,00
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Der Band führt mitten in die bundesrepublikanische Politik-, Energie- und Sozialgeschichte der späten 1970er Jahre, der Zeit "nach dem Boom". Führende Zeithistoriker verorten hier eine Zäsur: Philipp Sarasin im Jahr 1977, Frank Bösch erst im Jahr 1979 [1].
Zwischen diesen beiden Jahren liegen die für Gorleben entscheidenden Ereignisse, die diesen Ort zum dauerhaftesten Schauplatz der Auseinandersetzung um Atomenergie machten. Im Frühjahr 1977 verkündete der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), das geplante Entsorgungszentrum für den bundesdeutschen Atommüll nahe Gorleben an der innerdeutschen Grenze im wirtschaftsschwachen Landkreis Lüchow-Dannenberg bauen zu wollen. Der für die Landesregierung überraschend vehemente "Widerstand", so die emphatische Selbstbezeichnung, wurde getragen von Landwirten und Zugezogenen, jungen Menschen und vor allem von Frauen. Als Albrecht Ende März 1979 in Hannover ein Experten-Hearing über das Entsorgungszentrum abhielt, beschloss die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, den Protest dorthin zu tragen. Der friedliche, mehrtägige "Treck" sollte ein Gegenmodell zu den gewaltüberschatteten Demonstrationen des Jahres 1977 sein. Als die Nachricht vom Reaktorunfall bei Harrisburg (Pennsylvania) am 28. März 1979 eintraf, mobilisierte dies massiv für die Abschlusskundgebung in Hannover, der bis dato größten Anti-Atom-Demonstration in der Bundesrepublik. Die Landesregierung beschränkte daraufhin die Gorleben-Pläne auf das unterirdische Endlager. Das beendete den Konflikt allerdings nicht. Erst im Herbst 2020 wurde Gorleben als mögliches Endlager gestrichen, die Suche nach einem Standort geht aber weiter.
Der Band basiert auf einer Tagung des Arbeitskreises für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen und des Instituts für Didaktik der Demokratie in Hannover im Sommer 2019. Zum 75-jährigen Landesjubiläum sollte "nicht nur an harmonische Erfolgsgeschichten" erinnert werden, sondern am Beispiel Gorleben auch an "konfliktreiche Lernprozesse" (13). Dabei ging es vor allem um Demokratiegeschichte, zu der "Bürgerinitiativen als zivilgesellschaftliche Ergänzung zur traditionellen Parteiendemokratie" (14) und der "Treck" beigetragen hätten, sowie außerdem um die Gesellschaftsgeschichte der Region. Der Band umfasst drei Teile, die sich mit Vergangenheit und Erinnerung beschäftigen.
Der erste Teil "März 1979: Ein Protestzug aus dem Wendland nach Hannover" beleuchtet den "Treck" selbst: in einer auf Zeitungsberichten basierenden Chronologie (Katja Fiedler und Karolin Quambusch), aus der Perspektive der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen (Gabi Haas), im Hinblick auf die Landesgeschichte (Detlev Schmiechen-Ackermann) und auf Emotionen und Identität (Ecem Temurtürkan).
Der zweite Abschnitt "Der Anti-Atom-Protest als soziale Bewegung im regionalen und europäischen Vergleich" bettet die Ereignisse in verschiedene Kontexte ein: in die Protestgeschichte (Philipp Gassert) und die sozialwissenschaftliche Forschung zur Anti-Atom-Bewegung (Dieter Rucht). Stephen Milder untersucht quellenbasiert, wie der Konflikt das Demokratieverständnis der Beteiligten im Hinblick auf die Mängel repräsentativer Politik sowie auf neue Möglichkeiten politischer Partizipation verändert hat. Seine These, die Anti-Atom-Bewegung habe als Motor einer gesellschaftlichen Fundamentaldemokratisierung gewirkt, übernimmt dabei manchmal ein wenig unkritisch diskursive Strategien und das Selbstbild der Anti-Atom-Bewegung. Andrew Tompkins zeigt die bisher oft übersehenen transnationalen Vernetzungen der Gorlebener Proteste auf. Der "Treck" als Protestform war inspiriert von den Protestmärschen der Larzac-Bauern nach Paris. Janine Gaumers Beitrag zu Wackersdorf spürt der weiteren Entwicklung des Atomprotests an der bayrischen Zonengrenze nach. Marc-Dietrich Ohses Kapitel über Umweltgruppen und Atomfragen in der DDR ist höchst lesenswert, aber wenig schlüssig in das Programm des Bandes eingewoben. Das Weiterleben des Protests als Cultural Heritage in der Region diskutiert Jenny Hagemann am Beispiel der Konstruktion regionaler Identität, von der die Wiedererweckung und Verbreitung des Begriffs Wendland zeugt. Damit leistet sie einen spannenden Beitrag zur Forschung über Umwelt und Regionalismus.
Der dritte Teil "Die Sonderausstellung 'Trecker nach Hannover'" diskutiert eine Ausstellung, die im Historischen Museum Hannover im Frühjahr 2019 gezeigt wurde. Der erste Beitrag erläutert die Schau aus der Perspektive ihrer Macher Katharina Rünger und Thomas Schwark. Karolin Quambusch erklärt den Smartphone-App-Rundgang. Andere Beiträge befassen sich mit einzelnen Medien wie Plakat (Katja Fiedler) und Film (Christian Hellweg), Michele Barricelli und Markus Gloe diskutieren die Ausstellung aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik. Zu guter Letzt erhält der Leser Einblick in die vielfältigen Aktivitäten und reichen Sammlungen des Gorleben-Archivs in Lüchow (Gabi Haas und Birgit Huneke).
Der interdisziplinär angelegte Band umfasst Kapitel aus vielfältigen historisch-sozialwissenschaftlichen Fächern, von sozialer Bewegungsgeschichte bis zur Emotionsgeschichte, zur politischen Bildungsforschung, zur Geschichts-, Museums- und Demokratiedidaktik. Zudem treffen Autorinnen und Autoren ganz verschiedener Provenienz aufeinander - von den Zeitzeuginnen und Protestforschern der 1970er Jahre wie Dieter Rucht, der ausweislich eines abgedruckten Plakats für den Gorleben-Treck Ansprechpartner war, über eine jüngere Generation, die in den letzten Jahren die Geschichte der deutschen Anti-Atom-Bewegung neu gedeutet hat, bis hin zu Studierenden aus dem Projektseminar an der Leibniz Universität Hannover, das an der Ausstellungsplanung und -konzeption beteiligt war. Die Studierenden geben spannende Einblicke. Katja Fiedler erkundet die Visual History des Protests, unter anderem anhand des 1985 von Joseph Beuys zum Kunstwerk geadelten "Tag X" Plakats gegen die Atommülltransporte. Liam Harrold und Sarah Rieger diskutieren die Relevanz der Erinnerung an die Gorleben-Proteste "aus studentischer Perspektive" und damit die Grenzen der Erinnerungspolitik. Ob "die Fridays-for-Future-AktivistInnen hieraus politische Legitimierung oder identitätsstiftendes Potential für sich selbst und ihr Engagement schöpfen" (283), sind sie sich nicht so sicher.
Mit seinem Fokus auf ein folgenreiches Protest-Ereignis in einer Phase großen zeithistorischen Wandels und das bisher eher wenig untersuchte Gorleben leistet der Band einen wertvollen Beitrag zur (west-)deutschen Anti-Atom- und Zeitgeschichte. Angesichts des landesgeschichtlichen Schwerpunkts verwundert es, dass die besondere (Rand-)Lage von Gorleben an der Grenze nur einleitend kurz Erwähnung findet, obwohl die Bedeutung von Grenzen im Rahmen der Border Studies in letzter Zeit viel diskutiert wird. Ein abschließendes Kapitel, das die verschiedenen Themen und Perspektiven des Bandes - insbesondere die komplexen gesellschaftlichen Lernprozesse einerseits und das intendierte erinnerungspolitische oder demokratie- und geschichtsdidaktische "Lernen aus der Geschichte" andererseits - zusammenführt, hätte dem Buch zusätzliche analytische Tiefe verliehen.
Anmerkung:
[1] Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael (Hgg.): Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 2021 und Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019.
Jan-Henrik Meyer