Winfried Baumgart (Hg.): Kaiser Friedrich III. Tagebücher 1866-1888, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 615 S., ISBN 978-3-506-77384-5, EUR 74,00
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Die Veröffentlichung der Tagebücher Friedrichs III. war nicht immer ein ungefährliches Geschäft. Als Heinrich Geffcken, ein Staatsrechtler und ehemaliger Kommilitone des Kronprinzen, im Herbst 1888 Auszüge aus dessen Kriegstagebuch von 1870/71 veröffentlichte, wurde er das Opfer einer politisch-juristischen Hetzjagd. Obwohl der Prozess gegen ihn scheiterte, verließ er das Gefängnis Moabit nach mehrmonatiger Haft als gebrochener Mann. Der Grund für Bismarcks heftige Reaktion auf Geffckens Veröffentlichung war die Brisanz der Frage, wessen Geistes Kind der kürzlich verstorbene Kaiser gewesen war. Darüber war zwischen den Parteien ein scharfer Meinungskampf entbrannt, in dem die Freisinnige Partei das vermeintlich linksliberale Vermächtnis Friedrichs III. als patriotisches Argument ins Feld führten. Nach ihrer durch das Tagebuch angeblich bestätigten Deutung erschien der Kaiser geradezu als ein demokratischer Vorkämpfer für Freiheit und sozialen Fortschritt.
Der Nachhall dieser Legendenbildung sollte noch jahrzehntelang zu hören sein und umgab Friedrich III. mit der Aura einer verpassten Chance: mit dem liberalen Friedrich anstelle des reaktionären Wilhelm II. wäre alles besser verlaufen. Reformen hätten das Reich modernisiert und liberalisiert; der Welt wären Kriege und Diktatur erspart geblieben. Die Teilveröffentlichungen von Friedrich-Tagebüchern in der Zwischenkriegszeit - durch Eduard Engel (1919) und Heinrich Otto Meisner (1926, 1929) - standen als Themen der jüngsten monarchischen Vergangenheit durchaus noch in einem politischen Zusammenhang.
Mit seiner Edition der Tagebücher des Kronprinzen und Kaisers bewegt sich Winfried Baumgart im deutlich ruhigeren Fahrwasser einer rein historischen Fragestellung. Indem er (bis auf die bereits edierten Kriegstagebücher von 1870/71) die Jahre von 1866 bis zum Tod Friedrichs im Juni 1888 abdeckt, komplettiert er das Meisnersche Projekt. Er macht somit eine prominente Quelle zur Reichsgründungs- und Bismarckzeit bequem zugänglich. Wie der Berliner Archivar vor ihm legt auch der Mainzer Emeritus eine Auswahl aus den Tagebüchern des Hohenzollern vor. Belangloses und routinemäßige Aufzeichnungen - etwa zum Wetter oder zu Reise-Etappen - wurden weggelassen; aufgenommen hingegen "Einträge von historisch-politischem und kulturhistorischen Interesse." (7)
Meisners pietätvolle Praxis, die mitunter unbeholfene Prosa des Kronprinzen zu glätten, hat Baumgart hingegen nicht fortgeführt. Stattdessen bietet er dem Leser eine präzise transkribierte Edition aller syntaktischen und orthografischen Eigenheiten des Kaisers. Auch was die Auswahl der editierten Passagen aus dem über Jahrzehnte täglich geführten Tagebuch betrifft, so ist man bei Baumgart in guten Händen: alle wichtigen Passagen, die bedeutende Zusammenhänge betreffen oder Aufschluss über die Haltung des Thronfolgers geben, finden sich hier wieder. Knappe, wohl ausgewählte Fußnoten und ein umfassendes Register tragen zur Benutzbarkeit dieser Edition bei und bestätigen den Eindruck einer sorgfältigen, handwerklich ausgezeichneten Arbeit.
Zu einigen größeren Themen - etwa zur Reform der preußischen Kreisordnung, zur Richtungsänderung der Jahre 1878/9 oder zur Anbahnung der Kartell-Wahlen von 1887 - bieten die Tagebucheinträge des Kronprinzen eine detaillierte, das vorhandene Bild durch Nuancen ergänzende Beleuchtung. Insgesamt jedoch ist auch das sorgsam ausgewählte Kondensat aus einer mehr als zwei Dezennien umfassenden Niederschrift inhaltlich ein vergleichsweise dünnes Süppchen. 1926 sprach sich Hans Rothfels nach der Lektüre des Kriegstagebuchs des Kronprinzen scharf über dessen "Mangel an [...] konzentrierter Schärfe des Denkens und Wollens" aus und bemängelte "das Klischeehafte und äußerlich Angeeignete, das Unorganische und Krampfhafte" seiner Ideen. [1] Ob das Urteil ganz so harsch ausfallen muss, mag dahingestellt bleiben, aber auch aus den nun vorgelegten späteren Tagebüchern tritt dem Leser beileibe kein zupackender, politisch konsequent und präzise denkender Mann entgegen.
Dabei verweisen die Einträge auf den Kronprinzen als einen Menschen, der, trotz seiner nicht zu übersehenden Eitelkeit und einigen Allüren, sympathische, beeindruckende und Mitgefühl erregende Seiten hatte. Vieles ist dazu geeignet, Friedrich dem Leser menschlich näher zu bringen: das innige Verhältnis zu seiner Gattin Victoria; die tiefe Trauer über den Tod seiner Söhne Sigismund und Waldemar; die über Monate stoisch ertragenen Leiden seiner Krebserkrankung; und auch die Zeichen einer depressiven Charakterveränderung. "Fünfzig Jahre, also das Leben hinter mir", schrieb der Thronfolger am 18. Oktober 1881; "Ich altere fühlbar, u. hätte ich nicht Frau u. Kinder als mein Alles - längst wünschte ich aus der Welt zu scheiden." (391)
Politisch jedoch bleibt der Kronprinz eine schwankende Größe. Immer wieder trifft er sich mit linksliberalen Politikern wie Bamberger, Forckenbeck oder Schrader. Immer wieder beschreibt er sich und seine Gattin als freisinnig und wettert gegen Bismarck. Nur bleibt dies alles folgenlos. Friedrich stellte sich eben nicht deutlich hinter die ihn hofierenden Linksliberalen, sondern wandte sich bereits im Frühjahr 1884 eindeutig dem Kanzler zu. Am 25. Oktober 1884, nur wenige Tage nach der Niederlage der Freisinnigen Partei in den Reichstagswahlen, eröffnete Friedrich dann brav "den Staats Rath mit einer von Bismarck vorgeschlagenen Rede im Elisabeth Ball-Saal." (463)
Baumgarts Tagebuch-Edition illustriert deutlich, dass die Entscheidung gegen eine linksliberale Option nicht allein der Charakterschwäche des Kronprinzen, sondern zum Teil auch seinen ureigenen politischen Neigungen geschuldet war. Er bestätigt damit neuere Studien, die den Gedanken, Friedrich hätte eine liberal-demokratische Wende herbeiführen wollen, ins Reich der Legende verweisen. [2] Sein scharfer Anti-Katholizismus und die schrille Sozialistenfurcht, die Skepsis gegenüber einer staatlichen Sozialpolitik, die pro-koloniale Haltung und die Begeisterung für das Militär: all das verortet ihn im moderaten deutschen National-Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Hinzu kamen die Geringschätzung für die nicht-preußischen Dynastien im Reich und deren föderale Rechte, ein Pochen auf die Vorrechte der Krone gegenüber dem Parlament und ein überhöhter Machtanspruch für das Amt des Kaisers. Dieser drückte sich deutlich in einer Niederschrift über seine Absichten als Monarch aus, die Friedrich 1885 in sein Tagebuch einklebte: "Keine Institution über den Kopf wachsen lassen. Also Reichstag nicht mir Majoritäten, entscheidend, wie seine jetzigen Auswüchse sind", so hieß es dort. "HerrscherGewalt, aber kein allmächtiges Kanzlerthum, wie es sich jetzt herangebildet hat; aus Ersterer muß sich jede Kraft heranleiten u. von ihr abhängig bleiben. Reich ist zu konsolidiren; persönl. Erledigung der Reg[ierungs]Geschäfte durch mich." (572)
Ob es Kaiser Friedrich vermocht hätte, das Reich gegen die Machteliten zu reformieren, hatte seinerzeit schon Theodor Fontane den alten Stechlin bezweifeln lassen. [3] Nach der Lektüre dieser Edition ist einmal mehr zu fragen, ob Friedrich dies überhaupt gewollt hat. Der Autor dieser Tagebucheinträge erscheint weniger als linksliberaler Systemveränderer als ein Mann des nationalliberal-monarchischen Status Quo, gelegentlich sogar als Vater des wilhelminischen Konzepts eines "Persönlichen Regiments". Dass der bedauernswerte Heinrich Geffcken wegen seiner Veröffentlichung des kronprinzlichen Tagebuchs von Bismarck ruiniert wurde, sagt jedenfalls mehr über den politischen Stil des alten Kanzlers aus, als über die politischen Absichten Friedrichs III.
Anmerkungen:
[1] H. Rothfels: Das Kriegstagebuch Kaiser Friedrichs. Preußische Jahrbücher 203 (1926), 294-295.
[2] P. Kollander: Frederick III. Germany's Liberal Emperor, Westport/Conn. 1995; F. L. Müller: Our Fritz. Emperor Frederick III and the Political Culture of Imperial Germany, Cambridge/Mass. 2011.
[3] T. Fontane: Der Stechlin, Berlin 1899, 35. Kapitel.
Frank Lorenz Müller