Ulrich Pfeil: Mythes et tabous des relations franco-allemandes au XXe siècle. Mythen und Tabus der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert (= Convergences; Vol. 65), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2012, X + 307 S., ISBN 978-3-0343-0592-1, EUR 69,10
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Corine Defrance / Ulrich Pfeil: Eine Nachkriegsgeschichte in Europa. 1945 bis 1963, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011
Ulrich Pfeil (Hg.): Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die "Ökumene der Historiker". Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz, München: Oldenbourg 2008
Diese Neuerscheinung ist hochwillkommen in einem Jahr, in dem sich eine deutsch-französische Kommemoration an die andere reihen wird, zugleich aber die Beziehungen zwischen den beiden Ländern spannungsreich sind und manche alte Stereotypen wiederkehren. Mythen und Tabus sind ein komplexes und komplementäres Begriffspaar: Der erste Begriff meint die "geheiligte Geschichte", die von solchen Ereignissen und Personen handelt, welche man als singulär, exemplarisch und identitätsbildend empfindet; der zweite umreißt die Vergangenheit, die man am liebsten vergessen möchte, die selten erforscht wurde und über die nicht gesprochen wird. Tabus können aber auch das sein, was Marion Gaillard in ihrem äußerst gelungenen Beitrag als die "non-dits" des deutsch-französischen Verhältnisses kennzeichnet: Das Ungesagte, das in den öffentlichen Diskursen mitschwingt; der Bodensatz an Wahrnehmungen, Meinungen und Klischees über das Nachbarland, der als Subtext die Beziehungen mitprägt. Diese "non-dits" beruhen wiederum oft auf Mythen über das Nachbarland; sie beziehen sich auf alte Selbst- und Gegenbilder, welche die beiden Länder dichotomisch einander gegenüberstellen.
Die fünfzehn, ausgewogen auf Deutsch oder Französisch verfassten Aufsätze entfalten ein weitgespanntes Panorama solcher mythologisch aufgeladener oder aber tabuisierter Themen der Beziehungsgeschichte: Das berühmteste Schulbuch der Dritten Republik, "Le tour de la France par deux enfants", wollte die nationale Identifikation mit Frankreich stärken und gleichzeitig die Niederlage gegen Deutschland vergessen machen (Hartmut Stenzel). 70 Jahre später sollte eine andere Niederlage ausgeblendet werden: Hinter dem mobilisierenden Mythos der Revolution sollte das Debakel des Sommers 1940 verschwinden (Christine Pflüger). "Gegengeschlechtlichkeit" ist ein Leitmotiv der deutsch-französischen Wahrnehmungsmuster seit dem 19. Jahrhundert, wie Esther S. Pabst etwa am Paar Michel und Marianne deutlich macht. Rapallo, so zeigt Andreas Wilkens, wirft einen langen Schatten ins 20. Jahrhundert: Jegliche exklusive deutsch-(sowjet)russische Annäherung nährt bei manchen französischen Beobachtern den Argwohn, eine "Achse Berlin-Moskau" würde vorbereitet. Im Rahmen der deutsch-französischen Kooperation nach 1949 ging man nicht weniger selektiv mit Geschichte um: Jean-Paul Cahn macht deutlich, dass der Algerienkrieg nicht nur in Frankreich, sondern auch in der Beziehungsgeschichte der beiden Nachbarländer tabuisiert wird: Guy Mollet, einer der Architekten der Römischen Verträge, hat in der Ahnengalerie des "franco-allemand" keinen Platz gefunden, da die Erinnerung an ihn stets mit der Eskalation des Algerienkrieges verbunden bleiben wird. Die deutsch-französische Versöhnung wurde, so zeigt Corine Defrance, seit den 1960er Jahren zum zentralen Mythos der Beziehungsgeschichte, dessen Erinnerungsorte und Gedenktage allerdings bis heute nicht unumstritten sind, ebenso wie manche Autoren bereits an seiner Dekonstruktion arbeiten.
Kein anderer Zeitraum der deutsch-französischen Nachkriegsgeschichte macht die Bedeutung und Wirkungsweise von Mythen und Tabus so sinnfällig wie die Jahre 1989/90. Mehrere Beiträge befassen sich deshalb mit dem Umfeld der deutschen Vereinigung: So legt Julien Thorel dar, wie der Mythos vom deutschen Sonderweg die französische Deutschlandwahrnehmung der 1980er Jahre begleitete. Marion Gaillard liefert eine subtile Analyse der Diskrepanzen der Jahre 1989/90 und macht sichtbar, wie Unausgesprochenes und Hintergedanken in den Äußerungen französischer Spitzenpolitiker ebenso wie in der deutschen Wahrnehmung mitschwangen. Hanna Milling untersucht die seitdem erschienene französische Deutschlandliteratur und zeigt, dass alte Stereotypen von der germanischen "Seele" verstärkt wiederauftauchen.
Die Beiträge bieten neue Sichtweisen auf bekannte Prozesse, verfolgen anregende wie unkonventionelle Fragestellungen und erlauben erhellende Einblicke in wenig erforschte Themen. Hervorzuheben ist zudem der durchweg interdisziplinäre Ansatz, den die hier zu Wort kommenden Historiker, Kultur-, Literatur- und Politikwissenschaftler/-innen verfolgen. Nicht alle Autoren arbeiten mit der gleichen Definition der beiden Schlüsselbegriffe, was bei einer Vielzahl von Autoren aus unterschiedlichen Fachrichtungen auch gar nicht erzielbar (und wünschbar) wäre. Es bleibt zu hoffen, dass die Frage nach Mythen und Tabus in Zukunft weiterverfolgt wird: In diesem Band stehen die französischen Sichtweisen auf Deutschland im Vordergrund. Die hier entfalteten Fragestellungen ließen sich mit gleichem Recht auf die deutsche Frankreichwahrnehmung und auf scheinbar unausrottbare Klischees wie etwa das der "Grande Nation" anwenden.
Matthias Waechter