Martin Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen: Wallstein 2012, 428 S., ISBN 978-3-8353-1059-9, EUR 34,90
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Die friedliche Revolution von 1989/90 zählt spätestens seit dem Jubiläumsjahr 2009 zu den am besten erforschten Ereignissen der neuesten Zeitgeschichte. Dennoch handelt es sich bei dem vorliegenden, auf eine Vortragsreihe zurückgehenden Sammelband nicht um einen neuen Aufguss von längst Bekanntem. Denn die einfache, gleichwohl zentrale Frage, warum die Revolutionen in der DDR und im östlichen Europa (weitgehend) gewaltfrei blieben, wurde bisher noch nie so umfassend beantwortet wie in diesem Buch. Die Mehrzahl der Aufsätze ist dem Umbruch in der DDR gewidmet. Eine Reihe von Abhandlungen zu den Revolutionen in den anderen Staaten des östlichen Europa zeigt überdies, dass dabei Gewalt eine höchst unterschiedliche Rolle spielte, und dient dazu, das Geschehen in der DDR in einen größeren Zusammenhang einzubetten.
Martin Sabrow sieht vier strukturelle Ursachen für den weitgehend gewaltfreien Ablauf der ostdeutschen Revolution. Gewaltlosigkeit blieb, erstens, trotz des Wechsels in der Führung deren oberste Richtschnur; bei dem Bürgerprotest handelte es sich, zweitens, um innersystemische, nicht aber um fundamentale Opposition; drittens trug der kirchliche Schutzraum zur Dominanz der Friedlichkeit bei; viertens, und für Sabrow am wichtigsten, hatte eine "säkulare Abkehr von der Gewalt" stattgefunden. Er sieht darin eine "gesamteuropäische Entwicklung" (29), wobei er als Zäsur zwischen Gewaltfixierung und Gewaltabwendung einmal das Jahr 1945, ein anderes Mal eher die Zeit um 1970 herum im Auge hat. Auf diese These wird noch zurückzukommen sein.
Drei Aufsätze behandeln Aspekte zur staatlich-repressiven Seite der Ereignisse von 1989 in der DDR. Rüdiger Bergien beantwortet die Frage, warum die Parteifunktionäre trotz einer traditionell bellizistischen Disposition überwiegend vor den Revolutionären kapitulierten, mit dem Verweis darauf, dass deren Feindbild weggebrochen sei: Bereits Anfang der 1970er Jahre war unübersehbar geworden, dass deren Referenzrahmen "nicht mehr durch den Klassenkampf konstituiert wurde" (50). Während Bergien dazu (zu) ausführlich auf die kommunistischen Traditionen eingeht, konzentriert sich Jens Gieseke in seinem äußerst gelungenen, stärker auf die 1980er Jahre fokussierten Beitrag auf die Frage, warum das MfS im Herbst 1989 seine Aufgabe, die Revolution niederzuschlagen, nicht erfüllt habe. Dessen Gewaltkultur, so Gieseke, ließ sich gegenüber der Alltagspraxis in einem zunehmend zivilisierten Umfeld nicht mehr aufrechterhalten. Die traditionellen Wahrnehmungsmuster des MfS lösten sich sukzessive auf und verloren dementsprechend "rapide an handlungsleitender Kraft" (81), so dass dessen Mobilisierungswille erlahmte: Die nachvollziehbare Diagnose für 1989 lautet daher, dass das MfS nicht versagte, sondern aufgrund innerer Entkräftung weitgehend handlungsunfähig geworden war. Weniger analytisch, sondern stärker deskriptiv geht Heiner Bröckermann der Gewaltfrage im Hinblick auf die NVA nach, die bereits Anfang 1989 keine zuverlässige Armee mehr gewesen und im Herbst 1989 fast schon gelähmt gewesen sei. Wie Hans Ehlert sieht er daher in der Zurückhaltung der NVA lediglich einen "passiven Beitrag zur friedlichen Revolution" (152).
Zwei Aufsätze bieten demgegenüber Erklärungsversuche zur Friedlichkeit der Herbstrevolutionäre. Detlef Pollack zufolge kam das hohe Aggressionspotenzial unter den Demonstranten vor allem wegen der Zurückhaltung der Sicherheitskräfte nicht zur Entfaltung. Zudem hatten die Protestierer das Gefühl, mit friedlichen Mitteln einen Sieg über die Staatsmacht davongetragen zu haben: Ihr Erfolg war daher eine wichtige Bedingung für die Gewaltlosigkeit. Überdies führt Pollack das rationale Kalkül an, dass es für sie "unsinnig gewesen wäre, den Machtkampf mit dem militärisch haushoch überlegenen System zu suchen" (126). Gegenüber diesen Erklärungen fallen sowohl die Rolle der Kirche als auch die friedliche Protestkultur der Opposition für die Gewaltfreiheit der Revolution weniger ins Gewicht - eine Erkenntnis, die Pollack aufgrund einer Analyse der Vorgänge in Plauen, Dresden und Leipzig gewonnen hat. Demgegenüber ist die Auffassung von Holger Nehring, die Bausoldaten hätten "durch ihr Denken, ihre Kommunikation und ihre Vernetzung konkrete 'Spuren' des Friedens und des gewaltfreien Handelns in der DDR [gelegt], die in der Situation von 1989 massenhaft Nachahmer fanden" (106), wenig überzeugend. Denn zum einen waren die Bausoldaten, die innerhalb der NVA einen waffenlosen Wehrdienst leisteten, nur eine Rekrutierungsquelle für die Friedensbewegung der DDR, und zum anderen war diese letztlich zu unbedeutend, als dass sie das Protestgeschehen 1989 nachhaltig beeinflussen konnte.
Zu erwähnen sind des Weiteren eine Fallstudie zum 9. Oktober in Leipzig von Walter Süß, die durchaus Neues enthält, und eine weitere zu den Unruhen in Dresden von Edward Hamelrath, der auf die Sicherheitspartnerschaft zwischen Polizei und Demonstranten als pazifizierendes Element verweist. Während Manfred Görtemaker den Blick auf die Bundesregierung richtet und den friedlichen Verlauf des Umbruchs von 1989/90 auch auf die aus deren Risikoabschätzung gewonnene Vorsicht zurückführt, gilt die Aufmerksamkeit von Bernd Schäfer der "DDR und der chinesischen Lösung". Aus seinen Darlegungen geht hervor, dass der enge Schulterschluss der DDR mit der Volksrepublik China im Krisenjahr 1989 auf die Ostdeutschen zwar bedrohlich wirkte, die SED-Führung damit aber keine "Drohbotschaft" (163) gegenüber der eigenen Bevölkerung verband, da sie nicht glaubte, in der DDR Vergleichbares wie in China befürchten zu müssen. Er vertritt demgegenüber die überzeugende These, dass ohne die gewaltsame Lösung der chinesischen Unruhen im Juni 1989 die Hemmschwelle für eine Gewaltanwendung in der DDR möglicherweise niedriger gewesen wäre. Denn die internationalen Reaktionen, insbesondere die Sanktionen der Bundesrepublik gegenüber China, "machten der DDR-Führung deutlich, dass eine massive Gewaltanwendung nicht nur einen innenpolitischen, sondern auch einen hohen außenpolitischen und wirtschaftlichen Preis haben würde" (169).
Die restlichen Beiträge gehen der Gewaltproblematik in den Revolutionen und Systemwechseln aller anderen europäischen sozialistischen Staaten nach, wobei Ungarn lediglich im Rahmen eines Aufsatzes von Peter Haslinger zu "Gewaltoptionen und Handlungslogiken im Revolutionsjahr 1989 in Ostmitteleuropa" erwähnt wird. Haslinger führt die Gewaltlosigkeit in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei vor allem auf Gorbatschows Reformpolitik zurück, die zur Entsolidarisierung und Verunsicherung der Parteiführungen dieser Länder beigetragen habe: Die konservativen Kräfte hätten gehofft, den neuen Kurs auszusitzen, während für neue Gruppen innerhalb der Apparate Gorbatschows Reformoptionen zunehmend attraktiv geworden seien. Letztere trafen auf die Protestbewegungen, was zu einer unabgesprochenen, deeskalierend wirkenden "Handlungsallianz" geführt habe (276). In Polen, so Włodzimierz Borodziej, hatte die Staatsmacht nach Verhängung des Kriegsrechts 1981 "die Erfahrung bewaffneter Ohnmacht" (293) gemacht. Vor diesem Hintergrund bot 1988/89 eine Wiederholung des Gewaltszenarios genauso wenig einen Ausweg aus der Krise; außerdem hatte das Regime bereits mit der Amnestie von 1986 implizit auf Gewaltanwendung gegenüber der Opposition verzichtet. In der ČSSR war Michal Pullmann zufolge nach 1969 im Zeichen der "Normalisierung" Gewalt aus dem Leben der meisten Bürger ausgeschlossen worden, deren Vorstellungen von einem guten Leben der Staat zunehmend respektierte. Unter diesen Bedingungen hatten die Dissidentengruppen kaum Einfluss auf die Mehrheitsgesellschaft. Das änderte sich erst, als breite Schichten nicht mehr daran glaubten, dass der Staat seine Aufgaben erfüllen konnte; erst jetzt solidarisierten sie sich mit den Dissidenten. Die Vorstellungen von einem ruhigen Leben wurden nun gegen den Staat gewendet, und die Mehrheit eignete sich "die neue Ideologie der Gewaltfreiheit im November 1989" an (355).
Anders als in Ostmitteleuropa waren die Umbrüche sowohl in Bulgarien als auch in Rumänien mit Gewalt verbunden. Wie Stefan Troebst sachkundig darlegt, fand der Machtwechsel in Bulgarien von Todor Schiwkow zu Petar Mladenow innerhalb der Bulgarischen Kommunistischen Partei und weitgehend gewaltfrei statt. Das Umfeld des Machtwechsels war indes äußerst gewaltträchtig, da dieser im Schatten des von staatlicher Seite seit 1984 aufgeputschten Konflikts mit der türkischen Minderheit stattfand. Demgegenüber ging die Führung relativ milde mit den bulgarischen Oppositionellen von 1989 um. Als bei den Wahlen von 1990 die Postkommunisten die Mehrheit erhielten, kam es jedoch zum Aufruhr; die Lage beruhigte sich erst nach neuerlichen Wahlen von 1992, die eine Machtbalance von Postkommunisten und Reformisten ergaben, wobei die Partei der türkischen Minderheit das Zünglein an der Waage bildete. Sehr viel gewaltsamer verlief der Umbruch in Rumänien, wo zwischen dem 16. und dem 27. Dezember 1989 1104 Menschen getötet und 3352 verletzt wurden. Die Machtkonsolidierung von Ion Iliescu erforderte folglich mehr Opfer als die Entmachtung des Diktators selbst; auch nach den Wahlen vom 20. Mai 1990 hörte die Gewalt nicht auf. Iliescu ließ Bergarbeiter in Bukarest massiv gegen Bürger vorgehen, die gegen das Wahlergebnis protestierten. Über die zahlreichen Ursachen für diesen Sonderfall innerhalb der europäischen Revolutionen von 1989 informiert präzise Peter Ulrich Weiss.
Der Band geht abschließend auf den gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens und die Genese und Grenzen des Gewaltverzichts am Beispiel der Sowjetunion ein. Der Regimewechsel fand in Jugoslawien 1989/90 zwar friedlich statt, aber über die Trennung der Teilrepubliken kam es zum Krieg. Dafür war, so Marie-Janine Calic, erstens, eine konträre Interessenlage im Hinblick auf die Zukunft der Föderation verantwortlich: Während die wirtschaftlich am weitesten entwickelten Staaten Slowenien und Kroatien in die Eigenständigkeit strebten, verfolgte Serbien eine Rezentralisierung. Zweitens gab es gewaltbereite politische und militärische Akteure, die überdies über Waffen und Truppen verfügten. Drittens, und vielleicht am wichtigsten, kam die "mobilisierende Kraft nationaler Ideologien" (395) hinzu: All dies trug zu einem äußerst grausamen Krieg bei, der nur nach Intervention durch die USA beigelegt werden konnte. Gorbatschow hingegen betrachtete nach Jan C. Behrends Gewalt als kontraproduktiv für seine Politik. Daher setzte er bereits im Mai/Juli 1986 seine Politik gegenüber den Ostblockstaaten "auf das Gleis des Gewaltverzichts und der gleichberechtigten Zusammenarbeit" (410). Innerhalb der Sowjetunion jedoch galt der Gewaltverzicht nur eingeschränkt, da sich die Gewaltapparate ein Stück weit seiner Kontrolle entzogen. Erst ab 1993 wurde unter Boris Jelzin Gewalt auch wieder als Mittel der Konfliktlösung eingesetzt, so dass man Gorbatschows Reformprojekt durchaus als "oktroyierte Zivilisierung" verstehen kann, die allerdings weder im Staatsapparat noch in den gesellschaftlichen Eliten hinreichend Fuß fasste.
Lässt sich also, wie Sabrow einleitend schreibt, der Umbruch in Deutschland und Europa "in eine fortschreitende 'Entgewaltung' des 20. Jahrhunderts einbetten" (8)? Gerade angesichts des bulgarischen, rumänischen, jugoslawischen und (post)sowjetischen Falls sind hier Zweifel angebracht. Vielleicht wäre es sinnvoller, bei aller notwendigen Suche nach übergreifenden Erklärungsmustern, die Nüchternheit des Historikers walten zu lassen, der gegenüber linearen Fortschrittsnarrativen erst einmal skeptisch bleiben sollte.
Hermann Wentker