Jochen P. Laufer / Martin Sabrow (Hgg.): Die UdSSR und die beiden deutschen Staaten 1949-1953. Dokumente aus deutschen und russischen Archiven, Berlin: Duncker & Humblot 2023, 751 S., ISBN 978-3-428-15704-4, EUR 99,90
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In den Morgenstunden des 15. Januar 1953 wurde der Mitbegründer der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands und Außenminister der DDR, Georg Dertinger, auf Befehl des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit in seinen Amtsräumen verhaftet und nach Monaten der Folter in einem Geheimprozess wegen angeblicher Spionage und Verschwörung gegen die DDR zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Frau und zwei seiner Kinder wurden ebenfalls eingekerkert, sein drittes Kind an linientreue Pflegeeltern gegeben. Am 5. Januar hatte der sowjetische Außenminister Andrej Ja. Vyšinskij in Abstimmung mit der sowjetischen Staatssicherheit für die sofortige Verhaftung Dertingers plädiert und einen Eilbeschluss des Politbüros vorbereitet.
Die Dokumente über die Verfolgung Dertingers bilden gemeinsam mit einem Bericht des westdeutschen Bundesamtes für Verfassungsschutz und anderen Aktenstücken den Abschluss des vom langjährigen Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, Martin Sabrow, und vom viel zu früh verstorbenen Spezialisten sowjetischer Deutschlandpolitik Jochen Laufer nach dessen Tod herausgegebenen sowie von Ole Christian Kröning bearbeiteten Editionsbandes. Er setzt, durch Akten beider deutscher Staaten angereichert, das vierbändige Pionierwerk von Laufer und Georgij Kynin "Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1949" fort.
Geprägt war die Epoche im Westen vom schrittweisen Übergang zur - immer noch eingeschränkten - Souveränität durch den Deutschlandvertrag, von der Sorge vor einem kommunistischen Angriff im Stil des Koreakrieges und vom Plan einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Diese Entwicklungen bildeten den Rahmen für diverse sowjetische Initiativen teils mit DDR-Beteiligung wie die eingeleitete Gewährung größerer Autonomierechte oder aber die nach zweijähriger Vorbereitung veröffentlichte "Stalinnote" zur deutschen Wiedervereinigung um den Preis der Neutralität des geeinten Deutschlands. Deren Hauptziel war wohl, die Einbeziehung Westdeutschlands in die EVG zum Scheitern zu bringen; die NATO, so Vyšinskij 1949 gegenüber Dertinger, solle man aufgrund innerer Widersprüche nicht überschätzen.
96 der edierten Dokumente stammen aus dem Außenpolitischen Archiv der Russischen Föderation und dem Russischen Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte, darunter streng geheime Schreiben an Stalin, Chiffretelegramme und Politbürobeschlüsse; 27 aus westdeutschen Beständen, insbesondere dem Auswärtigen Amt, 15 aus dem ehemaligen Außenministerium der DDR. Einen wichtigen Bestandteil bilden die regelmäßigen Protokolle der Besprechungen des Vorsitzenden der Sowjetischen Kontrollkommission für Deutschland (SKK) General Vasilij I. Čujkov, des Politischen Beraters der SKK Vladimir V. Semënov und des sowjetischen Missionschefs in der DDR Georgij M. Puškin mit Präsident Wilhelm Pieck, Ministerpräsident Otto Grotewohl, SED-Generalsekretär Walter Ulbricht, Außenminister Dertinger und anderen.
Im Zentrum steht die DDR, etwa die von der SED geforderte und in Moskau beschlossene Durchsetzung der Einheitsliste für die "Volkskammerwahl" im Oktober 1950 - die vom Westen als Grundlage für eine Wiedervereinigung geforderten freien Wahlen wurden von der SED abgelehnt. Insbesondere seitens der Kirchen wurde Protest gegen die Einheitsliste und den auf Schüler, Studenten, Lehrer und Geistliche ausgeübten Gewissenszwang laut. Dementsprechend riet Čujkov im April 1950 Grotewohl und Ulbricht, im "Krieg" gegen die kritischen Teile der Kirchen, "wenn schon keine Kirchenspaltung, so doch Zwist vorzubereiten" (139-140). Im Bereich der Wirtschaft finden etwa die von Stalin im Mai 1950 angekündigte Halbierung der verbliebenen Reparationspflichten, der Verkauf von 23 Sowjetischen Aktiengesellschaften in Deutschland oder die Tätigkeit der Wismut AG, des bedeutendsten Uranlieferanten im sowjetischen Machtbereich, Erwähnung.
Mit Blick auf die Bundesrepublik sollten die sowjetischen bzw. DDR-Kontakte zur nationalkonservativen und kirchlich-pazifistischen Opposition, darunter der Präsident des Außenamts der Evangelischen Kirche in Deutschland, Martin Niemöller, der Würzburger Historiker und Neutralist Ulrich Noack und der "Nauheimer Kreis", der ehemalige Reichskanzler Joseph Wirth, der ehemalige Bundesinnenminister Gustav Heinemann, Sand ins Getriebe der westlichen Wiederbewaffnung streuen (während die östliche intensiviert wurde), vielleicht sogar die Regierung Adenauer zu Fall zu bringen.
Ergänzt werden die sowjetischen und DDR-Perspektiven durch westdeutsche. Obwohl ein "russischer" Angriff laut dem Berater der Bundesregierung für Militär- und Sicherheitsfragen, General Gerhard Graf von Schwerin, im August 1950 nicht unmittelbar bevorstand, so konstatierte er doch, dass die Kasernierte Volkspolizei der DDR zur Besetzung West-Berlins in der Lage sei. Schwerin beklagte die Infiltration der Bundesrepublik durch prosowjetische und neutralistische Elemente, und das neu gegründete Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen warnte vor der "illegalen Wühlarbeit" durch SED-Tarnorganisationen (213). Das Auswärtige Amt (AA) sah das bevorzugte sowjetische Ziel in einer "Sowjetisierung von ganz Deutschland auf kaltem Wege ohne Krieg" (277). Was die "neue deutsche Ostpolitik" betraf, empfahl der Leiter des entsprechenden Referats im AA 1952 eine Fortführung der auf Westintegration, friedliche Wiedervereinigung und Wahrung der "Rechte" östlich von Oder und Neiße gerichteten Politik sowie direkte Beziehungen zu den "Satellitenvölkern" (450).
Entgegen aller zeitgenössischen Propaganda unterstreichen die sowjetischen und DDR-Akten die anhaltende Dominanz der UdSSR über Initiative und Entscheidungen, obwohl Fragen manchmal zwischen SKK und SED durchaus strittig waren, es sich "nicht um eine bloße Befehlskette [handelte]", wie Ole Christian Kröning in seiner sachkundigen Einführung feststellt (XX). Die Rede von der "Eigenständigkeit" der DDR war primär ein Propagandainstrument im Systemkampf gegen den Westen, in dem es galt, die DDR als souverän, die Bundesregierung hingegen als Marionette des angeblichen US-amerikanischen "Imperialismus" darzustellen. Wo vorhanden, wurden die Spielräume der DDR von der SED vordringlich zur Verschärfung der Sowjetisierung genutzt. So zeigte Ulbricht Initiative, etwa zur Schließung der Berliner Sektorengrenze, nachdem die deutsch-deutsche Grenze 1952 abgeriegelt worden war. Obwohl Ulbrichts Zug zur "Mauer" kurz darauf von Moskau gestoppt wurde, war dennoch nicht der später von Semënov angedeutete Konflikt erkennbar, sondern eher, wie Kröning feststellt, "weitgehende Konvergenz" (CLXIV). Offenkundig sind aber sowohl die sowjetische Ambivalenz, mit der Čujkov etwa die DDR zu eigenständigen Entscheidungen aufforderte, die er selbst kurz darauf kritisierte (Dok. 14 und 18), als auch der Drahtseilakt Ulbrichts im Ausloten eigener Handlungsmöglichkeiten gegenüber der DDR-Regierung.
Die oft auf Schein bedachte Politik kam nicht nur in Bezug auf die behauptete Eigenständigkeit der DDR zum Tragen, sondern auch mit Blick auf die angebliche Überparteilichkeit diverser Funktionäre. Als der Vorsitzende der Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft Jürgen Kuczynski aufgrund seiner jüdischen "Nationalität" abserviert wurde, meinte Ulbricht, dessen Nachfolger solle kein Kommunist sein, sondern im "Erscheinungsbild" zumindest eine "Nuance von Überparteilichkeit" besitzen (180). Die vom Kreml auf die DDR übertragene Taktik, längst beschlossene eigene Schritte als "Reaktion" auf westliche darzustellen, wie etwa die DDR-Staatsgründung, die Einheitsliste oder die Schaffung der DDR-"Volksarmee" wurde von Dertinger gegenüber Puškin als "Prinzip" rekapituliert, "erst die Schritte in Westdeutschland abzuwarten und dann zu reagieren" (157).
Die Edition bereitet aussagekräftige Dokumente hoher und höchster Provenienz sachkundig, umfassend und informativ in deutscher Übersetzung auf. Bedauerlich ist das Fehlen eines Sachregisters. Die Datierung von Dok. 106 wäre auf 1952 zu korrigieren, der stalinistische Propagandabegriff "Säuberung" (CLVII) in Anführungszeichen zu setzen - insinuiert er doch, dass die betroffenen Menschen Schmutz seien. Im Kommentar zum Marshallplan wäre anstelle des irrtümlich unter den ehemaligen Kriegsgegnern der USA genannten Österreich, das infolge des militärisch vom Deutschen Reich erzwungenen "Anschlusses" inexistent war, Italien zu nennen (55).
Niemand, der sich mit der sowjetischen Deutschlandpolitik und der DDR beschäftigt, wird künftig an diesem aufwändigen Werk vorbeikommen.
Wolfgang Mueller