Rezension über:

Christina Lutter (Hg.): Funktionsräume, Wahrnehmungsräume, Gefühlsräume. Mittelalterliche Lebensformen zwischen Kloster und Hof (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; Bd. 59), München: Oldenbourg 2011, 171 S., mit 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-70396-2, EUR 39,80
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Rezension von:
Letha Böhringer
Historisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Letha Böhringer: Rezension von: Christina Lutter (Hg.): Funktionsräume, Wahrnehmungsräume, Gefühlsräume. Mittelalterliche Lebensformen zwischen Kloster und Hof, München: Oldenbourg 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 11 [15.11.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/11/21724.html


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Christina Lutter (Hg.): Funktionsräume, Wahrnehmungsräume, Gefühlsräume

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Die Aufsätze dieses Bandes gehen auf eine Tagung in Admont 2009 zurück; sie wurden, wie in der Einleitung dargelegt wird, anhand unterschiedlicher Quellen mittels eines gemeinsamen Fragenkatalogs erarbeitet. Der 'Auftrag' wird in einer vielschichtigen kulturgeschichtlichen Fragestellung formuliert: "Dabei sollten besonders Praktiken, Muster und 'Dinge' in den Schnittfeldern der funktionalen Räume 'Kloster' und 'Hof' Gegenstand der Zusammenarbeit sein und die theoretische Frage nach der Gleichzeitigkeit und den Verschränkungen mündlicher, schriftlicher und symbolischer Kommunikation exemplarisch an Beispielen des höfischen und des monastischen Raumes in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden", und zwar mit dem thematischen Fokus, dass "Gefühls-Konzepte [...] auf ihre Aneignung in der monastischen und höfischen Praxis befragt werden" (9).

Dies ist kein geringer Anspruch: Räume als Produkte sozialen und politischen Handelns, Interaktion und Kommunikation, Praktiken und Emotionen sollen anhand von Quellen konkretisiert und zudem noch die "Bewegungen zwischen den beiden Räumen 'Hof' und 'Kloster'" sichtbar gemacht werden (12). Es versteht sich, dass in den einzelnen Beiträgen nicht alle Vorgaben gleichermaßen umgesetzt werden konnten. Vielmehr entstand eine gewisse Bandbreite von Themenstellungen, die durchweg einen weit gefassten Raumbegriff mit Rekursen auf Emotionen und/oder Kommunikation verbinden.

Barbara Schedl, "Hof - Stadt - Kloster. Zu Funktions- und Gefühlsräumen mittelalterlicher Frauenklöster in Wien" (41-58) zeigt anhand konkreter Räume und Andachtsgegenstände die engen Verflechtungen zwischen den Klosterfrauen, ihren Familien und der Stadtgesellschaft auf. Repräsentative Kirchenräume wurden ebenso wie Kunstwerke als 'Andachtshilfen' von Stiftern, Bevölkerung und Nonnen genutzt; der weltlich-höfische Raum wurde erweitert durch die Architektur von Klöstern, die nicht nur die Vorstellungen der Stifter und Wohltäter widerspiegelte, sondern als standesgemäßer Lebensraum für die geistlichen Familienangehörigen den Bereich des 'Hofes' gleichsam erweiterte. Auf die im Kirchenraum musikalisch dargestellten 'Gefühle' geht Meta Niederkorn-Bruck ein, "Musik in der Liturgie des Klosters (rezipieren und reproduzieren)" (59-80). Schon die Zeitgenossen des 14. und 15. Jahrhunderts reflektierten die Wirkung einer Musik, die in erster Linie dem Lob Gottes und nicht dem Erwecken starker Gefühle bei den Sängern und Zuhörern dienen sollte. Musikalische Gestaltungen bildeten zudem "die Schnittstellen zwischen Gottesdienst und Zeremoniell um den Einzug des Königs/Fürsten herum" (71), denn die in Festmotetten zum Ausdruck gebrachte Huldigung galt unterschiedslos dem Heiligen wie dem Fürsten.

Mehrere Beiträge befassen sich mit den durch Lektüre geschaffenen Kommunikationsräumen. Eva Cescutti, "Lieben auf Lateinisch - Emotion oder rhetorische Codierung? Zu den Epistolae Duorum Amantium 24 und 25" (81-94) interpretiert die "Öffnung von Gefühlsräumen", die in den Briefen zum Ausdruck kommt, als "Auslotung einer Fülle von Möglichkeiten, um ein Abstecken der intellektuellen und emotionalen Koordinaten, innerhalb deren sich ein solcher Briefwechsel vollzog" (94). Karl Brunner, "Quaedam effigies praesentiae. Wahrnehmungsräume in Briefen, vornehmlich an Frauen" (95-108) stellt heraus, dass bei der "Konstruktion der Empfängerperson [...] die Kategorie Geschlecht eine nicht unwesentliche Rolle"(106) spielte, freilich neben anderen Faktoren. Frank Brandsma, "The Transfer of 'Religious' Emotions by Means of Mirror Characters (St. Brandaan, Hartmann's Gregorius, and The Book of Margery Kempe" (145-153) skizziert, wie unterschiedliche Autoren ihre Leserschaft emotional in die Geschichte einbeziehen, um sie religiösen Konzepten im Sinne des 'belehrten Skeptikers' zugänglich zu machen. Matthias Meyer, "Liebe/Trauer zwischen Hof und Kloster im mittelhochdeutschen Prosalancelot. Der Fall Dolorose Garde" (155-165) verfolgt die affektive 'Aufladung' eines eigentümlich zwischen realer Burg und Utopie angesiedelten Ortes, der als Gefühls- und Vorstellungsraum überdies mehrfach den Namen wechselt. Unter Rückbezug auf die in der Einleitung vorgegebenen Fragestellungen untersucht Christina Lutter, "Affektives Lernen im höfischen und monastischen Gebrauch von exempla" (121-143) hinsichtlich der Wechselwirkungen von höfischem und monastischem Raum die affektiven Aspekte der Erziehung in den beiden Sphären. Anhand eines weltlichen und eines geistlichen Tugendspiegels (Welscher Gast und Speculum Virginum) verfolgt sie den Einsatz von exempla, agonalen Strukturen und performativen Elementen wie Bewegung und Inszenierung.

Wie deutlich wurde, lösen längst nicht alle Beiträge die Forderung ein, Wechselwirkungen zwischen 'Kloster' und 'Hof' aufzuzeigen. Vielmehr entstand ein bunter Strauß von Beiträgen, der vor allem durch verschiedene Raumkonstrukte zusammengebunden wird. So drängt sich der Eindruck einer gewissen Überfrachtung der konkreten Arbeit an den Quellen durch methodische und begriffliche Vorgaben auf, so dass die Umsetzung weniger eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse, sondern eher eine gewisse Beliebigkeit zur Folge hatte. Dass ein 'Weniger' an Problemstellung einen wirklichen Mehrertrag an Ergebnissen zeitigen kann, demonstriert Albrecht Diem, "Disimpassioned Monks and Flying Nuns. Emotion Management in Early Medieval Rules" (17-39), aus Sicht der Rezensentin der innovativste und interessanteste Aufsatz dieses Bandes. Diem beschränkt sich - quellenbedingt - auf die monastische Welt, indem er das 'emotion management' in drei Regeltexten analysiert, und zwar in der Regula ad virgines des Caesarius von Arles, in der Benediktsregel und in der Regula cuiusdam ad virgines, die alle im 6. und 7. Jahrhundert entstanden. Mittels Disziplinierung des Ausagierens unerwünschter Gefühle wie Unzufriedenheit und Gleichgültigkeit, mit der Betonung, aber auch Begrenzung des Zeigens positiver Gefühle und mittels unterschiedlicher Bestrafungsverfahren formen und organisieren Regeltexte Verhalten in der Gemeinschaft als Ausfluss erwünschter Affekte. Als ausgewiesener Kenner frühmittelalterlicher Regeltexte kann Diem ein vielfältiges Repertoire an Einstellungen und Maßregeln aufzeigen, die in den Regeltexten zum Ausdruck kommen, wie etwa ein positives Menschenbild in der Regel des Caesarius, der 'seine' Nonnen grundsätzlich zum Guten befähigt hält und in negativen Gefühlen Einflüsterungen des Teufels 'von außen' sieht. Wenig Interesse an zwischenmenschlichen Gefühlen auf der 'horizontalen' Ebene beweist hingegen die Benediktsregel. Sie stellt Gottesfurcht und Gehorsam in den Mittelpunkt und sanktioniert vor allem Gefühle wie Stolz und Ehrgeiz, die der 'vertikalen' Hierarchie der Gemeinschaft gefährlich werden könnten. Im Gegensatz dazu stellt die Jungfrauenregel, die in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts für ein kolumbianisches Kloster verfasst wurde, die Beziehungen der Nonnen untereinander in den Mittelpunkt. Bekämpft werden Gefühle wie Lauheit und Unlust; doch wird nicht allein sanktioniert, etwa durch strenge Schweigegebote, sondern auch ermutigt und ein positives Grundgefühl vermittelt, nicht zuletzt durch großzügige Nahrungszuteilung sowie Festgestaltung. Die Nonnen sollen nicht nur freundlich miteinander umgehen, sondern dazu auch intrinsisch motiviert sein. Die Beschränkung auf den monastischen Raum und die Befragung der Texte mittels der offenen Kategorie "emotion management" erwies sich hier als fruchtbar und weiterführend.

Letha Böhringer